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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Nr. 80.

Samſtag, den 5. Oktober 1872.

5. Jahrg.

Erſ cheint Mittwoch und Samſcag. Preis Aaern 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Sbca ſſea

und bet den

ägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)

Dieſer verſprach, augenblicklich in dieſer Angelegen-
heit Briefe abzuſenden und hielt Wort.
Nach zwei Wochen traf die gewünſchte Erzieherin
auf Handorf ein. Es war eine in den dreißiger Jah-⸗
ren ſtehende Dame, auf deren Geſicht die Natur den
Stempel einer außergewöhnlichen Gutmüthigkeit und
Sanftmuth gedrückt hatte.
Von Herrn von Handorf wurde ſie freundlich, von
deſſen Gemahlin aber kalt empfangen, da dieſe es lä-
cherlich fand, daß mit dem Schulmeiſterkinde ſo viele
Umſtände gemacht wurden. ö
Fräulein Herbert, ſo hieß die Gouvernante, der ein
Zimmer neben dem der Kleinen eingeräumt wurde,
zeigte ſchon in den erſten Lehrſtunden, bei denen der

hierin nöthigen Kenntniſſe mit einer zweckmäßigen Un-
terrichtsmethode vereinte. Das geiſtig begabte Kind
lernte leicht und zu beſonderm Vergnügen des Pflege-
vaters mit einer Freudigkeit, die aus dem Herzen kam.
Im Hauſe ihres verſtorbenen Vaters hatte ſie nur den

gewöhnlichen Elementar⸗Unterricht, wie er in einer

Dorfſchule ertheilt wird, empfangen. Jetzt wurde ſie
von Fräulein Herbert in mehreren fremden Sprachen,
wie in der Muſik, unterrichtet.

wohl ſeine Gattin dazu die Stirne runzelte, das Cla-
vier ſeiner verheiratheten Tochter, deſſen dieſe jetzt nicht
laſer bedurfte, in das Zimmer der Erzieherin tragen
aſſen. ö
Nach zwei Monaten war das Beſtreben des Greiſes,
den anfangs noch immer wieder ausbrechende Schmerz,
der dem geliebten todten Vater galt, ſo zu mildern,
daß Marie wieder zu lächeln vermochte, vom Gelingen
gekrönt, und nur wenn ſie das Kreuz, das der Frei-
herr auf den Grabhügeln Reiners hatte ſetzen laſſen,
mit einem friſchen Kranze ſchmückte, tropften ihre Thrä-
nen auf die jetzt ſchon grünende Erhöhung nieder.
So flotz Mariens Leben ſtill und friedlich dahin,

getheilt zwiſchen den Lehrſtunden und den traulichen

Geſprächen, die ſie mit der Erzieherin, welcher ihrer
lerin in der kurzen Zeit ſchon ihre Liebe zugewen-
Fund dem Pflegevater führte.

Ebenſo wohlthätig, wie Letzterer auf ihre Stimmung,
hatte ſie auf ſein umdüſtertes Gemüth gewirkt. Ein
ganzes Jahr lang nach Bertha's Hinſcheiden hatte man
den alten Herrn nicht lächeln ſehen und nach der Trau-
ung von Emilien hatte er die weißen Brauen noch dich-
ter zuſammengezogen.
Jetzt aber lag wieder der Sonnenſchein der Heiter-
keit auf den faltigen Zügen, und geſchah es doch wie-
der einmal, daß die Erinnerung an ſein vergangenes
Glück ſein Auge trübte, ſo durfte die ſilberklingende
Stimme Mariens ihm nur zurufen: „Nicht weinen,
mein lieber, herziger Papa! Ich thue es ja auch nicht
mehr!“ und die Wolken verſchwanden von ſeiner Stirne.
Mit der ſtolzen gnädigen Frau war Marie in der
verfloſſenen Zeit oft zuſammengekommen. Herr von

Handorf hatte ſie nicht blos zu ſeiner Gemahlin in's

Zimmer geführt, ſondern es auch veranſtaltet, daß ſie,
wenn die Baronin im Schloßgarten ſpazieren ging, dieſe
zuweilen begrüßen, ihr die Hand küſſen und für die

ö Wohlthaten, die ſie empfing, dauken konnte.
Greis anweſend, daß ſie die zu einer tüchtigen Erzie-

Aber das liebliche Geſicht der Kleinen, die ſanfte.

rührende Stimme, hatte nicht die gewünſchte Wirkung.
Frau von Handorf begegnete ihr zwar nicht hart und
abſtoßend — ſo viel Rückſicht war ſie ihrem Gatten
ſchuldig — aber ſie blieb kalt, gemeſſen und ſchweig ſam
gegen ſie und ſuchte ſo ſchnell als möglich aus ihrer
Nähe zu kommen.

Herr von Handorf ſah mit Bedauern, daß alle Ver-
ſuche ſeines Lieblings fehlſchlugen, die Gunſt ſeiner

ſtolzen Gattin zu erlangen.
Zu letzterem Zwecke hatte Herr von Handorf, ob-

Doch hegte er noch eine Hoffnung, das war die

Rückkehr der Frau von Herbſtau von ihrer Hochzeits-
reiſe, die binnen wenigen Wochen erfolgen mußte.

„Emilie kannte Marie. Sie wußte, mit welcher Zärt-

lichkeit dieſe an Bertha gehangen. Sie hatte die hei-

ßen Thränen der Kleinen an deren Sarge fließen ſehen.
Vielleicht, ſo dachte der Freiherr, gelingt es ihr, welche
von der Mutter vergöttert wird, dieſe günſtiger gegen
mein Pflegekind zu ſtimmen.
Der von beiden Eltern erſehnte Tag kam endlich
heran. Emilie hatte vorher geſchrieben, zu welcher
Stunde ſie mit ihrem Gatten auf Handorf eintreffen
werde. Die jungen Galten ſollten, ſo hatte Frau von

Handorf es angeordnet, gewiſſermaßen feierlich empfan⸗—
gen werden. Die Schloßportale wurden reich mit Blu-

men und Eichenlaub bekränzt. Der aus Roſen gebil⸗—
dete Namenszug der Vermählten prangte über der
Pforte, Muſikanten, aus dem nächſten Städtchen her-
 
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