Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

DOI Kapitel:
Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44618#0177

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Samſtag, den 1. Juni 1872.

5. Jahrg.

cheint Mittwoch und Samſeag. Preis monatlich 15 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schi de ſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Schließer zu Norwich.
Novelle von J. N. Vogl.
(Fortſetzung und Schluß.).

Wie entſetzlich war ihm jede Säumniß, wie marter-
voll der kurze Aufenthalt in den Straßenherbergen, wo er
nur die Pferde wechſelte, um all' die Qualen wieder zu
empfinden, die er ſchon empfunden hatte. Ueberall, wohin

John mit dem Kinde kam, empfing ihn das Gelächter der

Anweſenden, überall mußte er zum Ziele ihrer Witz⸗ und
Stichelreden dienen, wo er es nicht der Mühe werth er-
achtete, Aufklärung über ſeinen ſonderbaren Reiſegefährten
zu geben; wo er es aber that, ergriff Wohlwollen und
Rührung alle Gemüther, und die Segenswünſche aller Müt-
ter, welchen John zu Geſichte kam, geleiteten ihn auf ſei-
ner raſchen Fahrt. ö
Zwei Tage, welche ihm Ewigkeiten ſchienen, waren im
Fluge entſchwunden. Je näher er der melancholiſchen, mit
ewigen Wolken von Kohlendampf umhüllten Reſidenz kam,
deſto unerträglicher wurde John's Lage. Endlich war er
daſelbſt angekommen. John verfügte ſich ſogleich in die
Vorſtadt Islington zu einer alten Matrone, einer Anver-
wandten ſeines Weibes, und übergab ihr das Kind zur
Aufbewahrung und ſorgſamen Pflege, und eilte ſodann
durch die ungeheure, regelloſe Häuſermaſſe, durch die ohne
Plan ſich kreuzenden breiten und winkeligen Gaſſen und
Gäßchen nach dem weſtlichen Theile der Stadt, wo ſich,
wie er von der Alten erfahren, der Palaſt des Miniſters
befand. Jetzt hatte er Newbond-Street erreicht, und nä-
herte ſich dem prachtvollen Hauſe Sidney's, als ein bunt-
gekleideter, goldbetreßter Jokey des Miniſters in aller Eile
an ihm vorüberflog und auf daſſelbe zueilte.
„Halt! Halt!“ rief John: „Junger Herr, auf ein
Wort!“
„Was gibt's ?“ fragte der Jokei. ö
„Könnt Ihr mir nicht ſagen,“ fragte John, „wo ich
Se. Herrlichkeit den Miniſter ſprechen kann?“
„Alter Narr,“ rief der Jokei unwillig, „haltet jemand
Anders zum Beſten, als mich!“ Nach dieſen Worten eilte
er wie ein Pfeil in den Palaſt.
John ſah dem Jokei etwas verdutzt nach; doch faßte
er ſich bald wieder, um ſein Glück weiter zu verſuchen.
In dieſem Augenblicke wurde die Falſtaff's⸗Geſtalt des
Thürſtehers an dem Portale ſichtbar, bei deſſen Anblick

man unwillkührlich an Rabelai's Ausſpruch: daß der

Bauch das große Centrum des Univerſums ſei, erinnert

wurde. John näherte ſich ſogleich mit einem Aufwande
von Höflichkeit dem Manne mit dem breitem Bande, ek-
zählte ihm in der Schnelligkeit das Vorgefallene und be-
ſchwor ihn, ihm Mittel und Wege an die Hand zu geben,
wie er Lord Sidney ſprechen könne.
„Das iſt gänzlich impoſſibel, mein Freund!“ ſchnarchte
ihn der Bebandete vornehm an. „Ihr müßt Euer An-
liegen in Form Rechtens abfaſſen laſſen und Eure Sup-
plik unſerer Kanzlei übergeben; und dann warten, was
Euch für ein Beſcheid von uns ertheilt werden wird.“
„Ach, mein Gott, der Beſcheid kommt zu ſpät!“ jam-
merte John: „das Transportſchiff geht ſchon in drei Ta-
gen ab.“
„Da condolire ich; denn weiter iſt nichts für die Sache

zu thun,“ antwortete Jener und wies ihm achſelzuckend

den Rücken.
John ließ ſich aber nicht ſo leichten Kaufes abweiſen.
Nachdem er mehrere Male um den Palaſt, wie ein Fuchs
um einen Hühnerhof herumgeſtreift war, erblickte er einen
Domeſtiken mit einem Teller, worauf er Ananaſſe trug,
und wendete ſich nun mit ſeiner Bitte an dieſen.
„Packt Euch zum Henker!“ rief dieſer, ihm zornige
Blicke zuwerfend. „Wie könnt Ihr es wagen, mit ei-
nem Diener des Lords Sidney zu ſprechen? — Ihr bel-
telhafter, dummdreiſter, lumpiger alter Schurke!“
Und abermals ſtand der arme John ohne Rath, ohne
Hülfe. Doch ſchwand ſeine Hoffnung, ſeinen Plan in's
Werk zu ſetzen, noch immer nicht. Wieder eilte ein Be-
dienter an ihm vorüber, den er anredete. Dieſer aber

lachte aus vollem Halſe, als er erfuhr, was John be-

gehrte. Ha! ha! ha! ein Schließer zu Norwich will zum
Lord Sidney! — Ihr ſeid betrunken, Alter!“ rief er:
„geht nach Hauſe und ſchlaft Euren Rauſch aus, bevor
Euch der Thürſteher den Weg weiſ't.“
John wußte nun nicht, was er beginnen ſollte. Bald
aber raffte er all' ſeinen Muth wieder zuſammen und trat
in das Haus, entſchloſſen, es nicht früher zu verlaſſen, bis
er den Miniſter geſprochen habe. Es galt für eine va-
ter⸗ und mutterloſe Waiſe und um dieſen Preis wollte er
es auf Alles ankommen laſſen.
Er war über die reinliche, mit grünen Teppichen aus-
gelegte Treppe gekommen, ohne daß ihn der dicke Thür-
ſteher, der in ſeiner Loge eben ſeine Kanne voll Gerſten-
ſchleimſuppe trank, geſehen hätte. Leiſe öffnete er den
Flügel einer der hohen Doppelthüren und trat in ein ge-
räumiges Vorgemach. Es war leer; doch bemerkte er eine
zweite Thür, vorſichtig eilte er auf dieſe zu und öff nete ſie.
John ſah ſich in einem Gemache mit herrlichen Tapeten
 
Annotationen