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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
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Bildern und Spiegeln geſchmückt; aber auch hier befand

ſich Niemand. Eben ſchlich er ſich wieder auf den Zehen-

ſpitzen nach der entgegengeſetzten Thür, da kreiſchte plötz-

lich eine heiſere Stimme hinter ihm: „Dieb, ich ſeh Dich!“
Auf das Heftigſte erſchrocken wendete ſich John um; das
Gemach war leer; in der einen Fenſtervertierun eber
hing ein bunter Papagei in einem Meſſig-Ringe, welcher
dieſe Worte, die man ihm zufällig eingelernt, gerufen
hatte. John wiſchte die Angſttropfen don der runzeligen
Stirn, kraute ſich in den wenigen Haaren, die ſeinen Kopf
umhingen und öffnete voll Zagen vor dem, was da noch
kommen würde, die nächſte Thür. In das anſtoßende Ge-
mach getreten, erblickte er ſogleich einen Herrn in elegan-
ten Kleidern, der an einem mit Papieren überladenen
Schreibtiſche ſaß und ihm den Rücken zukehrte. Auf das
Geräuſch, welches Joͤhn beim Eintreten machte, blickte die-
ſer um, und war nicht wenig erſtaunt, John in ſeinem

grauen beſtäubten Rocke, mit dem breiten Ledergurte, den

grautuchenen Pluderhoſen und Wollenſtrümpfen von glei-
cher Farbe vor ſich zu ſehen.
„Was wollt Ihr hier?“ fragte er den Eintretenden be-
fremdet.
John verneigte ſich vor dem fremden Herrn und be-
gann ſogleich wieder, jedoch nicht ohne Stotiern, ſeinen
alten Spruch herzuſagen. Der Fremde, welchen die Ge-
ſchichte der armen Kätty Skenny zu rühren ſchien, ſprach
zu John, als dieſer geendet hatte: „Ich bedauere Euch,
wackerer Alter, daß ich Euch nicht früher als in ein paar
Tagen zu einer Audienz bei Lord Sidney, verhelfen kann.
Se. Herrlichkeit ſind mit zu wichtigen Arbeiten überhäuft.
Doch will ich ſogleich den Befehl wegen Annahme des
Kindes ſelbſt ausfertigen, damit er dann ſogleich von Sr.
Herrlichkeit unterzeichnet werden kann.“
„Ach Gott, das iſt wohl eine große Gnade, gnädig-
ſter Herr, die Ihr gegen mich habt!“ antwortete John;
„aber —“

„Ja, weiter iſt nichts zu thun. Ich bin Gehelm⸗Se-

cretär Sr. Herrlichkeit des Lords Sidney und kenne meine

Verhaltungsbefehle, die ich nicht überſchreiten darf.“
John verließ hierauf ſehr kleinmüthig und herabge-
ſtimmt das Gemach, und machte Miene, auf dem er hier-
her gekommen, ſich wieder zu entfernen. Da fuhr ihm
aber plötzlich der Gedanke durch den Kopf: „wie, wenn
du auf der Treppe eine Weile harrteſt, wenn dir der Au-
genblick eben günſtig wäre und der Miniſter in der näch-
ſten Minute vom Parlamente nach Hauſe käme!“ — und
leiſen Schrittes ſchlich er ſich wieder durch die anſtoßenden
Gemächer auf die Treppe, wo er zu harren beſchloß, bis
der Miniſter käme oder man ihn hinausjagen würde.
Nicht lange noch hatte er zwiſchen Furcht und Hoffnung,
in einen Winkel gedrückt, auf der Treppe geſtanden, da
hörte er Wagengeraſſel und Geräuſch unter'm Portale und
gleich darauf ſah er wirklich den Miniſter, den er an dem
ſilbernen Sterne, dem Bath-Orden auf der linken Bruſt
erkannte, die Treppe herauf kommen. Vor John's Augen
begann es grün und gelb zu werden; kaum vermochte er
ſich aufrecht zu erhalten, als der Lord ſich ihm näherte.
Als Sidney den Abſatz der Treppe vollends erreicht hatte,

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auf welchem John ſtand, faltete dieſer die Hände und

lallts: „Eure Herr lichkeit —“
Luᷣord Sidney, welcher in Gedanken vertieft ſchien, blickte
raſch auf und ſah den Kerkermeiſter. Seine Stirne zog
ſich, dei dem Anblick des ärmlich ausſehenden, mit Staub
vebeckten Alten, in finſtere Falten und ſein Auge glühte
zornig. Ohne aber ein Wort zu ſprechen, ging er an dem
Flehenden vorüber.
„Eure Herrlichkeit!“ lallte dieſer abermals mit der
beweglichſten Stimme, indem er, wo er ſtand, auf die
Kniee ſank.
„Was ſoll das?“ fragte der Angeredete, ihn ſcharf
mit den Augen anblitzend, die Jenem beinahe die Sprache
benahmen. ö ö
Mühſam holte John Athem und fuhr dann mit beben-
der Stimme fort: „Ich flehe zu Eurer Herrlichkeit, nicht
für mich, ſondern für einen unſchuldigen Säugling, den
man von der Bruſt ſeiner Mutter riß.“
„Morgen,“ antwortete der Lord und ſtieg die Treppe
wetter hinan.
„Eure Herrlichkeit,“ rief John etwas beherzter, „mor-
gen iſt vielleicht die Mutter todt!“
Der Lord blieb auf der Treppe ſtehen und ſah ſich
derwundert nach dem ſonderbaren Bittſteller um, betrachtete
ihn einen Augenblick mit forſchenden Augen und winkte
ihm dann zu folgen. Der Miniſter ſchritt die Treppe
hinauf; John raffte ſich haſtig empor und folgte ihm, ſo
leiſe wie ſein Schatten. Diener, in goldſtarrenden Liv-
reen, riſſen oben die Thürflügel auf und wunderten ſich
nicht wenig, als ſie Se. Herrlichkeit in ſolcher Geſellſchaft
erblickten. Lord Sidney ging in ſein Gemach, hinter ihm
der Schließer von Norwich; die Thür fiel hinter den Bei-
den zu.
Nach Verlauf einer Viertelſtunde eilten zwei Menſchen
haſtig aus dem Palaſt des Miniſters. Der Eine war John
mit freudeglühendem Geſichte, ein Papier in der Rechten,
welches die Bewilligung enthielt, daß Richard Skenny
mit ſeiner Gattin vereint nach Botany-Bay transportirt
werden ſollte. Der Zweite war ein Courier, welcher der
armen Kätty die Nachricht zu bringen hatte, daß fie un-
verzüglich ihr Kind wieder erhalten würde. John eilte
nun im Fluge nach Norwich. Nachdem er ſeine Dorothea
begrüßt und ihr mit flüchtigen Worten das Vorgefallene
erzählt hatte, flog er ſogleich zu dem Gefängniſſe Richards.
Dieſen fand er in dem qualvollſten Seelenzuſtande, mit
verſtörtem Aeußern auf ſein Lager hingeſtreckt. „Auf!
auf!“ jubelte der Alte, „wir haben Eile; es geht vereint
mit Kätty und Willtam nach Botany-Bay.“
Faſt irrſinnig vor Freude folgte Richard dem redlichen
Schließer, welcher ihn raſch in ſeinen Wagen hineinſchob
und dann wieder mit ihm nach London dahinbrauſte. Hier
holten ſie den armen Säugling, welcher John ſo viel zu
ſchaffen gemacht hatte, und eilten ſodann, wie auf den
Flügeln des Sturmwindes, nach Plymouth. Die Nach-
richt von der Gnade des Miniſters war bereits hier an-
gelangt und Kätty, die mit den andern Sträflingen bereits
von dem Arreſtſchiffe auf das Transportſchiff gebracht wor-
den war, welches ein menſchenfreundlicher Mann, der Ka-

pitän Philipps, befehligte, harrte voll der unausſprech-
 
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