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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 71 - Nr. 78 (4. September - 28. September)
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Nr. 78.

Samſtag, den 28.

September 1872. 5. Jahrg.

Erſ cheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schi, ga ſſea

und bei den Trägern.

Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)

Reiner ſah ſein Kind liebevoll an. Er ſtand im
Begriffe, die Worte des Freiherrn durch ein von ſanf⸗—
tem Lächeln begleitetes Nicken des Kopfes zu beſtätigen.
Aber plötzlich zeigte ſich der Ausdruck eines heftigen
innerlichen Schmerzes in ſeinem blaſſen Geſichte. Er
griff mit der Hand nach der Bruſt, die ſich erſt krampf-
haft zuſammenzog und dann in einem pfeifenden Hu-
ſten Luft machte.
Marie blickte äugſtlich auf den Vater, der Greis
nicht minder. Erſt jetzt bemerkte er, daß es mit der
Geſundheit des armen Lehrers nicht zum Beſten ſtand
und ein Uebel an ſeinem Daſein nagte, deſſen Heilung
in der Regel nur dem Tode vorbehalten iſt.
„Krank und arm“, murmelte er vor ſich hin. „Ich
nannte ihn glücklich und er trägt wahrſcheinlich ſchon
den Tod im Herzen. Aber kann ich ihn auch nicht dem
Leben erhalten, ſo kann ich doch ſeine Leiden vielleicht
lindern helfen.“ ö
Er wartete, bis ſich Reiner von dem beängſtigenden
Anfalle erholt und ſagte dann zu der Kleinen, die den
Vater umfaßt hielt:
„Mein gutes Kind, der Tag iſt warm. Der Spa-
ziergang hierher hat mich durſtig gemacht. Könnteſt
Du mir wohl ein Glas friſche Milch beſorgen?“
ö „Wir haben keine im Hauſe“, erwiderte ſie. „Be-
ſitzen wir doch keine Kühe. Aber der Herr Schulze hat
einen großen Viehſtand, der Hat immer Milch vorräthig.
Zu dem will ich. Er wohnk' am andern Ende des Dor-
fes. Es wird aber wohl zehn Minuten dauern, ehe
ich zurück bin.“ 411

„Das ſchadet nicht, m n Kind. Ich kann ſo lange
warten. Geh' nur.“ ö

Marie wollte das Zimmer verlaſſen. Aber ſie blickte

auf den Vated und ſah dann den Freiherrn an, als
wollte ſie ihn bitten, dem Vater beizuſtehen, wenn ihm
der böſe Huſten zurückkehftt.
„Du kannſt unbeſorgt gehen, Marie“, verſetzte Herr“

von Handorf. „Ich bleibe hier, bis Du wieder da biſt.“P

„O, ich werde mich ſputen, gnädiger Herr.“
Mit dieſen Worten flog ſie zur Thür hinaus.
Die Männer blieben eine Zeitlang allein.

„Sie ſind krank, ernſtlich krank, lieber Reiner“,
ſagte der Greis.
Der Schullehrer bewegte den Kopf bejahend.
„Mein Kind darf Nichts davon wiſſen“, verſetzte er
mit heißerer Stimme. „Es würde dem Schmerze, den
es um ihre verlorene Freundin empfindet, einen neuen,
gleich großen, ach vielleicht noch größeren hinzufügen.
Aber Ihnen gegenüber will ich es geſtehen. Ich glaube
— daß meine Tage gezählt ſind.“
„Das wolle Gott verhüten, mein Freund“, ſagte
Herr von Handorf und fügte hinzu: „Haben Sie denn
niemals einen Arzt wegen Ihrer Bruſtbeſchwerden
conſultirt?“—
Reiner ſchüttelte den Kopf.
„Die nächſte Stadt iſt über eine Stunde weit von
hier entfernt“, erwiderte er. „Von dorther einen Arzt
kommen zu laſſen, würde viel Geld koſten, und daß
ein Dorfſchullehrer deſſen nicht reichlich beſitzt, wird
Ihnen nicht unbekannt ſein, Herr Baron. Ich würde
das geringe Mobiliar, das Sie hier ſehen, mit Schul-
den belaſten müſſen. Meine arme Marie müßte dann
als Bettlerin aus dem Hauſe gehen, denn das Gericht
iſt unbarmherzig und würde ihr auch das Letzte neh-
men. Auch trage ich die feſte Ueberzeugung in mir,
daß mir kein Arzt mehr helfen kann. Sind doch auch
meine Eltern an derſelben traurigen Krankheit hinge-
ſiecht.“ ö
Reiner ließ den Kopf auf die Bruſt ſinken und
ſchwieg. ö *
„Der Freiherr aber, deſſen Herz von Mitleid über-
floß, faßte ſeine Hand.
„Was Sie nicht im Stande ſind, auszuführen, konn
ich doch“, ſagte er mit herzlichem Tone. „Ach, daß
wir reichen Leute oft erſt ſo ſpät erfahren, daß ein
Armer in unſrer Nähe weilt, der Hülfe benöthigt iſt
und ſie verdient. Ich werde den Arzt kommen laſſen,
der ſeit Jahren in meiner Familie ſeine Kunſt übt.
Kein geſchickterer Doctor findet ſich zehn Meilen in die
Runde. Er ſoll jeden Tag einmal, zweimal, wenn es
ſein muß, Sie beſuchen. Mit ſeiner und Gottes Hülfe
wolien wir verſuchen, Ihrer Krankheit Herr zu werden.
Und' an der nöthigen Pflege ſoll es Ihnen auch nicht
fehlen, das Alles ſei meine Sorge. Ach, hätte ich
früher gewußt, daß Ihre Stelle Ihnen nur ein kärg-
liches Einkommen bietet, ich hätte dem Manne, dem
meine verſtorbene Kleine die wenigen Kenntniſſe, die

ihr ſchwacher Geiſt zu faſſen vermochte, verdankte,

ſchon längſt die hilfreiche Hand geboten. Aber Sie
 
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