Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

DOI Kapitel:
Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44618#0349

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 87.

Mittwoch, den 30. Oktober 1872.

5. Jahrg.

Erj cheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schiſgaſſed

und ber den Trägern.

Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
Fortſetzung.)

Herr von Handorf ſah ihr kopfſchüttelnd nach. Er
kannte nicht begreifen, welche Urſache dieſem ſturmiſchen
Ausbruche der Liebe und des Schmerzes zu Grunde
lag.
„Marie iſt krank,“ murmelte er, „und wenn ſie es
zehnmal läugnet, es iſt doch ſo. Ich muß einmal Ernſt
machen und den Doktor für ſie kommen laſſen. Hätte
ſie mich nicht ſo flehendlich gebeten, es nicht zu thun,
es wäre längſt geſchehen.“ ö ö
Als das weinende Mädchen wieeer bei der mütter-
lichen Freundin war, rief ſie ſchmerzlich aus:
„Ach, mir iſt das Herz faſt gebrochen, als ich den
theuren Greis zum letzten Male umarmt. Iſt mir doch
in dieſem Augenblick ein zweiter Vater geſtorben; denn
ich werde ihn nie mehr ſehen, nie wieder ſeine liebko-
ſende Hand an meinen Wangen fühlen. Es war ein
Glück, das keine Worte zu nennen vermögen! Und das
Alles unſchuldig einbüßen müſſen! O, das thut wehl
Das iſt mehr, als ich zu tragen vermag!“ ö
Die Gouvernante verſuchte ſie zu tröſten.

„Wärſt Du ſchuld an dieſer Trennung,“ ſagte ſie,‚

„dann würde das Weh in Deiner Bruſt noch herber ſein.
Den Schmerz der Unſchuld wird die allmächtige Zeit
lindern. D'rum faſſe Dich, mein theueres Kind. Eine
heilige Pflicht liegt Dir noch ob, Abſchied von der Stätte
zu nehmen, wo Deine Eltern und Geſchwiſter ruhen,
wo Deine Freundin Bertha ſchläft. Komm', laß' uns
gehen. Wir müſſen bis acht Uhr zurück ſein, da die
gnädige Frau Dich möglicher Weiſe nͤch zum Vorleſen
rufen laſſen kann.“
Marie willigte eing
Beide Frauen langten nach zehn Minuten auf dem
Friedhofe des Dorfes an.
Euſt kniete Marie am Grabe des-Vaters nieder
nd flehte in leiſem, aber inbrünſtigen Gebete den Him-
mel an, der ſich bis dahin fo gnadevoll gegen ſie er-
wieſen, ihr auch auf der neuen Lebensbahn, die ſie zu
betreten im Begriff, ſeinen Schatz nicht zu entziehen
gie über ihre Pflegeeltern den reichſten Segen zu er-
gießen. ö
Dann ſchritt ſie mit der Gouvernante der Handorf'
ſchen Familiengruft zu.

„Gute Bertha,“ flüſterte ſie, faſt möchte ich Dein
Loos beneiden. Kein Wunder, keine Kränkung quält
Dein weiches Herz mehr; das meine aber zittert bang
der Zukunft entgegen.
Wenn ich in die Nacht hinausblicke, ſo iſt mir, als
thürmten ſich in meiner Nähe dunkle, gewitterſchwere
Wolken auf, aus deren Schooße der böſe Dämon her-
vorſieht, der mich in meinen Träumen ſo furchtbar ge-
ängſtigt hat. ö
Vom Friedhofe aus begaben ſie ſich in's Dorf.
Marie wollte noch einmal das kleine Schulhaus ſe-
hen, wo ihr armer kranker Vater gewaltet und gelehrt,
wo ſie oft mit Bertha zu ſeinen Füßen geſeſſen und den

ſchönen lehrreichen Geſchichten gelauſcht hatte, die er ſo
klar und mit ſanftem Tone, zu erzählen pflegte.

In
dieſem Hauſe wohnte jetzt ſchon lange ein neuer Lehrer.
Marie hatte ihn ſchon oft geſehen, aber niemals mit
ihm geſprochen. Der Mann hatte ein ſinſteres gräm-
liches Ausſehen. Aus dieſem Grunde fühlte ſie ſich nicht
zu ihm hingezogen und hatte deshalb das Schulhaus,

ſeitdem er ſich dort einwohnte, nicht wieder betreten.

Auch jetzt ging ſie nicht hinein. Sie blieb ein paar
Schritte davon entfernt ſtehen, blickte lange und weh-—
müthig nach den niedrigen Fenſtern der Schulſtube und
trat dann endlich mit geſenktem Kopfe mit der mütter-
lichen Freundin den Rügweg nach dem Schloſſe an.
Als Beide wieder, auf ihrem Zimmer waren, ver-
fügte ſich Fräulein Herbert in ihre Schlafkammer, wo
die bereits gepackten, aber noch unverſchloſſenen Koffer
ſtanden. Sie waren offen geblieben, weil die Gouver-—
nante vor der Abreiſe noch verſchiedene Kleinigkeiten
hineinzulegen hatte. ö
Während ſie ſich dort beſchäftigte, ſetzte Marie ſich
an den Tiſch und ſchrieb unter heißen Thränen einen
Abſchiedsbrief an ihre Pflegeeltern. Die wenigen Zei-
len, die ſie auf das Papier warf, athmeten die glühenſte
Dankbarkeit, verbunden mit den heißeſten Segenswün-
ſchen für ihre Zukunft. Für ihre Flucht gob ſie keinen
anderen Grund an, als daß ein ihr feindliches Gefchick,
welches aber ewig geheim bleiben müßte, ſie dazu zwänge.
Sie flehte für ſich und ihre Erzieherin um Verzeihung
und ſchloß damit, daß ſie die ihr erzeigten Wohlthaten
niemals vergeſſen werde.
Dieſen offenen Brief legte ſie in ihr Schreibpult,
in der ſicheren Vorausſetzung, daß derſelbe erſt dann

in die Hände ihres Pflegevaters oder ſeiner Gemahlin

kommen werde, wenn der Wagen ſie ſchon weit hinweg-
getragen. ö
 
Annotationen