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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
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Samſtag, den 15. Juni 1872.

5. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schtzaſſel

und bet den Trägern.

Auswärts bei den Landboten und Vostanſtalten

Ein Irrlicht.
Von S. Junghans.
(Schluß).
„Beſſer, er wäre todt“, ſagte die alte Jungfer finſter.
„Lies weiter, wo wohnt er? was treibt er jetzt?“
Ein Hotel war als Adreſſe angegeben, der Name deſ-
ſelben bot den Frauen keinen Aufſchluß. Aus einigen
Worten des Briefes ging hervor, daß auch Willa ſich dort
befinde. Richard bat die Mutter dringend um Antwort;
er ſehne ſich darnach, zu wiſſen, wie es ihr gehe. An
Bitten um Verzeihung wegen ſeines gewaltſamen Schrittes
fehlte es natürlich auch nicht.
Dorothee mußte den Brief mehrmals vorleſen; als ſie
geendet hatte, ſah die Frau Stunden lang vor ſich hin, ohne
zu ſprechen; auch während der nächſten Tage erwähnte ſie
den Brief nicht. Endlich gewann Dorothee es über ſich,
das peinliche Schweigen zu brechen. Sollen wir Richard
nicht antworten, Mutter?“ fragte ſie.
„Er wird ſich wenig genug darum kümmern, ob wir
es thun oder nicht“, entgegnete Frau Halter.
Zum erſten Male trat Dorothee für den Bruder in die
Schranken. „Ich glaube, da irrſt Du, Mutter. Richard
fühlt ſich nicht wohl bei dieſem Leben. Er denkt an Dich,
er iſt weich.“
„Ja, zu weich“, ſagte die Wittwe bitter. „Aber frei-
lich ſollſt Du ſchreiben; eine Frage habe ich noch an ihn
zu richten: ich möchte wiſſen, ob er mit Willa Redern
verheirathet iſt.“
Der Brief wurde geſchrieben, aber es kam keine Ant-
wort darauf. Wochen und Monate vergingen, und das
junge Paar blieb für die einſamen, gramerfüllten Frauen
verſchollen. Dorothee hatte eines Tages kleine Einkäufe
in der Stadt gemacht; ſie ſtand allein im Zimmer, räumte
allerlei in verſchiedene Fächer nnd in ihrer ordentlichen Art
glättete ſie die Papiere, in denen ſie ihre Zwirnknäuel mit
nach Hauſe gebracht hatte, auf das Sorgfältigſte und legte

ſie zuſammen. Es waren alte Zeitungsblätter; ſie ſah ge-

dankenvoll darüber hin, bis ihr Auge auf einen Namen
fiel, der ſte zuſammenfahren ließ. Mit zitternder Hand
breitete ſie das Blatt auseinander; ee war der „Courier
von —bad“, kaum acht Tage alt, voll Ankündigungen und
Fremdenliſten. Da war es; unter den Gäſten des Hotel

de Boheme ſtand „Fräulein Willa Redern“, vergebens aber

ſpähte Dorothee nach dem Namen ihres Bruders. Eine
unbeſtimmte Angſt ergriff ſie bei dieſer Entdeckung; was

würde ſie erſt gefürchtet haben, hätte ſie gewußt, daß der
Baron Solt, deſſen Name unter dem der Tänzerin auf
der Liſte ſtand, und der Cavalier, der ihr an jenem Abend
im Parke neben Willa in ſehr unangenehmer Weiſe auf-
gefallen war, ein und dieſelbe Perſon ſeien.
Sie bewahrte das Blatt ſorgfältig; ihrer Mutter ſagte
ſie nichts, aber von jenem Augenblick an wußte ſie, daß
noch mehr Unglück bevorſtehe. Und das Unglück kam.
Die Frauen ſaßen eines Abends beiſammen, ſtill, wie
gewöhnlich, nur das Ticken der braunen Uhr an der Wand
war zu hören, nach der die Mutter kaum jemals noch
hinſah. Als ihr Sohn bei ihr war, hatte ſie ſich um die
Stunde gekümmert, da brachte ſein Gehen und Kommen
Abſchnitte in ihre Tage; jetzt achtete ſie der Zeit nicht
mehr. Da wurden ſchwere tappende Schritte auf dem Vor-
platz laut; es ſchien ſich Jemand im Dunkeln draußen nicht
zurecht finden zu können. Dorothee ſtand auf und öffnete
die Thür; ein Mann trat herein und hielt, geblendet von
dem Lichte, das ihn plößlich traf, die Hand über die Au-
gen. Es war eine entſetzlich magere Hand; als er ſie weg-
nahm, ſahen die Frauen in ein bleiches, mageres Geſicht,

das die Spuren ſchwerer Krankheit trug; einen Augenblick

nur, und dann ſtieß die Wittwe einen wilden Schrei aus
und warf ſich auf die gebrochene Geſtalt ihres Sohnes.
Es war Richard, ſo verändert aber, daß ihn außer der
Mutter und Schweſter kaum einer erkannt haben würde.
Faſt ohnmächtig lehnte er jetzt im Sopha; die Wittwe und
Dorothee hatten noch keine Frage gethan, mit allen erdenk-
lichen Liebesdienſten waren ſie um ihn thätig. Einmal ſuchte
Frau Halter das Auge ihrer Tochter mit dem Ausdrucke
unendlichen Jammers; Richard fing den Blick auf.
»„Ich ſehe übel aus, nicht wahr?“ ſagte er matt.
„Vielleicht hätte ich Euch dies erſparen ſollen, aber ich —
ich mochte nicht bei fremden Leuten ſterben.“
Frau Halter hatte ſich geſetzt und weinte ſtill. „Du
wirſt nicht ſterben“, ſagte jetzt Dorothee; Ues war zum er-
ſten Male, daß ſie ſprach. Dabei ſtrich ſie mit leiſer Hand
über des Bruders Stirn. Dieſe Stirn war jetzt hoch und
kahl; das dichte, braune Haar, von dem ſie beſchattet ge-
weſen, war verſchwunden; durch die dünnen Locken an den
Schläfen zogen ſich Silberfäden.
Mehrere Wochen lang war Richard recht krank und es
dauerte Monate, bis er zu erzählen vermochte, was ihn be-
troffen hatte.
„Ich wohnte mit Willa in einer Vor ſtadt von Wien“,
berichtete er endlich, in einem hübſchen Gartenhauſe. Sie

hatte ihre Zimmer im erſten Stock, ich die meinen im

Erdgeſchoß. Die Stelle, auf welche ſie mir Ausſichten er-
 
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