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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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bedeutend? Erſcheint nicht in dieſem Alter das Leben in
ſeiner ganzen Kraft und beſitzt der Saft der Bäume, wel-
cher im Frühling Blätter und Blüthen treibt, mehr Ge-
walt als der Wille, der uns im zweiundzwanzigſten Jahre
ausrufen läßt! „Ich will leben!“ .. . Nur erſt ſpä-
ier, wenn man weiter im Leben vorgerückt und jedes Jahr
um eine glückliche Täuſchung ärmer und um einen Schmerz
reicher geworden iſt, rufen wir beim Anblicke des Grabes
einer Jungfrau: „Ihr iſt wohl, Gott hatte ſie ſehr ge-
liebt, ſie iſt vieler Schmerzen überhoben!“ ... Welch'
anderen Erſatz hätten wir für das Unglück, auf Erden
zu altern, als die Freude, die man empfindet, wenn wir
aus dem Leben ſcheiden! ‚
Eine Büſte der Frau v. Adhemar, nach ihrem Tode
modellirt, ſtand in einer Niſche über dem Monument;
ihre abgezehrten und eingefallenen Züge waren noch re-
gelmäßig ſchön und ihre letzten Augenblicke mußten ſanft
und ſchmerzlos geweſen ſein. Ich theilte dieſe Bemerkung
Herrn Nichaud mit.
„Sie ſtarb mit Ergebung, mein Herr,“ entgegnete er,
„denn als ich ihr um Mittag ſagte, daß ſie nicht wieder
die Sonne würde untergehen ſehen, gab ſie mir zur Ant-

Aber kommen Sie,“ fügte er hinzu, „entfernen wir uns
von hier, denn in meinem Alter brennen die Thränen in
den Augen; dann will ich Ihnen ihre Geſchichte erzählen,
denn Sie haben über Ihrem Grabe geweint)...
Ich folgte Herrn Nichaud wieder nach Hauſe und da
ich mir dieſen Mann betrachtete, der ohne gerade gemein
zu ſein, doch eher einen gemeinen Ton und Benehmen
hatte, ſagte ich zu mir, daß jedes Geſchöpf ſeine poetiſche
Seite habe, daß Alles darauf ankomme, ſie zu berühren
zu verſtehen und daß der Herr Nichaud, wenn er von der
Präſidentin von Adhemar ſpreche und der Doctor Nichaud
am Krankenbette zwei ganz verſchiedene Weſen wären.
Der Weg von der Kirche bis in das Haus meines
Wirthes ward ſtillſchweigend zurückgelegt, indem jeder von
ns ſeinen traurigen Betrachtungen nachhing. Als wir bei
Herrn Nichaud ankamen, fanden wir ein Abendmahl, das
man auf Befehl hes guten Doctors in meinem Zimmer
aufgetragen hatte. Ein luſtiges Feuer, welches die Abend-
kühle auf dem Lande auch im Monat Mai noch nöthig
macht, brannte im Kamine und lud zur vertraulichen Un-⸗
terhaltung ein. „Erlauben Sie, daß ich, ehe ich mich am
Kamine niederlaſſe, deſſen einen Winkel ich bereits ein-
nahm, zuvor das Portrait der Frau v. Adhemar hole,“
und damit ging er nach einem Schranke, auf dem eine
kleine Bibliothek in einem meſſingenen Gitterwerk ſtand,
vor welches Vorhänge von grüner Seide gezogen waren.
Herr Nichaud zog ſeine Uhr, an welcher eine lange
Stahlkette hing, woran ein Schlüſſel befeſtigt war, wel⸗—
cher zur Bibliothek gehörte.
Dieſe Bibliothek diente dem Doctor als anatomiſches
Muſeum. Sie enthielt Schädel, Schienbeine und andere
dergleichen Utenſilien. Auch ſah man chirurgiſche Inſtru-
mente und Flaſchen mit Giftdroguen. Alle dieſe Gegen-
ſtände bedeckten die Fächer, mit Ausnahme eines einzigen,
auf welchem eine grob gearbeitete Schachtel von ſchwar-
zem Ebenholze lag; auf einer Seite der Schachtel lag eine

was bitten.

heilige Junfrau, und auf der andern Seite ein Chriſtus.

Herr Nichaud nahm die Schachtel mit andächtiger Vor-
ſicht zur Hand und legte ſie auf den Tiſch, an welchem
wir ſaßen.
„Dieſe Schachtel enthält das Portrait der Frau v.
Adhemar,“ begann er; „ſie, ſowie die Jungfrau und der
Chriſtus, welche ihren Betſtuhl zierten, ſind ein Vermächt-
niß von ihr, die ich wie drei Reliquien betrachte und nicht
für einen Lehrſtuhl in der mediziniſchen Facultät in Pa-
ris hingeben würde, ein ſo armer Landdoctor ich auch bin.“
Während er ſo ſprach, hatte Herr Nichaud ein herr-
liches Bildniß aus dem Käſtchen genommen; nie hatte ich
auf einer Frauenſtirne ſo viel Reinheit und Unſchuld thro-
nen ſehen; ihre großen, blauen Augen, ſchwermüthig gen
Himmel gerichtet, ſchienen Thränen zurückzuhalten und es
war, als ob ſie betete, wie Engel beten, wenn ſie um et-
Ihr gepudertes Haar, wie man es damals
trug, erhöhte noch die angenehme Friſche ihres Teints, dem
ein weißes leichtes Gewand einen überirdiſchen Schein ver-
lieh. An der Seite ſtack ein glänzendes Roſenbouquett.
„Sie iſt ſchön, nicht wahr, mein Herr?“ begann der
Greis in gerührtem Tone.
„Nie hat ein Frauengeſicht einen ſolchen Eindruck auf
mich gemacht,“ antwortete ich. ö
„Das ging Allen ſo, welche ſie ſehen, mein Herr;
man liebte ſie unwillkührlich; nur ein einziger Mann blieb
kalt gegen dieſen Engel und dieſer Mann war ihr Gatte
. . . Als ſich Frau von Adhemar dem Präſidenten ver-
mählte, zählte ſie ſechzehn Jahre und er über fünfzig. Er
war lang und hager, von ſtrengem, Ehrfurcht gebietenden
Ausſehen. In ſeiner Jugend ſollte er ſchön, abee von
ausſchweifenden Sitten geweſen ſein, was mit der außer-
ordentlichen Strenge, die er damals übte, ziemlich über-
einſtimmte. Seine Gattin war ſeine Mündel geweſen und
man wollte behaupten, die Unmöglichkeit, worin er ſich be-
fand, von ſeiner Vormundſchaft Rechenſchaft abzulegen,
habe ihn zu dieſer Verbindung bewogen.“ ö
„Drei Monate nach ſeiner Hochzeit, welche in der Pro-
vence gefeiert ward, ließ ſich der Herr v. Adhemar zum
großen Erſtaunen der ganzen Umgegend hier nieder; man
hatte ihn nur zweimal in Lacaux geſehen, ſeitdem er es
von ſeinem Vater geerbt, und ein Intendant hatte ſeither
alle ſeine Angelegenheiten beſorgt. Als man daher er-
fuhr, daß er mit ſeiner jungen Gattin ankomme, entſtand
eine allgemeine Freude, denn der Präſidentin war ſchon
der Ruf von ihrer Güte und Anmuth vorausgegangen und
ſowie man ſie ſahe, fühlten alle Unglücklichen, daß die
Vorſehung ihnen ihr eine Tröſterin zugeſchickt habe.
Eine Zeitlang gab es auf dem Schloſſe ununterbro-
chene Feſtlichkeiten, Jedermann beneidete das Loos der Frau
v. Adhemar; ich allein, mein Herr, ich machte die Be-
merkung, daß ſie nicht glücklich und daß ihr Gatte für ſie
ein Gegenſtand des Schreckens und des Abſcheus war. Sie
merkte, daß ich ihren geheimen Kummer und ihre Leiden
errathen und es entſpann ſich von dieſer Zeit an zwiſchen

ihr und mir eine ſtumme Vertraulichkeit, eine Art Gedan-

kengemeinſchaft, welche ſich nie durch ein Wort verrieth,
die aber mehr ſagte, als es die beredteſten Worte thun
konnten. ö ö
 
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