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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Haar aus und geberdete ſich wie ein Verzweifelnder. Ver-

gebens ſucht ihn John zu tröſten, ruhiger zu ſtimmen;
ſein Schmerz kannte keine Gränzen. Außer ſich, warf er

ſich zu den Füßen des Schließers und flehte ihn an, es

nur zu bewerkſtelligen, daß er ſeine Gattin, ſein Kind
noch einmal ſehe, daß er Abſchied von ihnen nehmen durfe.
John verſprach ihm, ſich bei Sir Francis Jackſon für ihn
zu verwenden und that es auch. Vergebens; dieſer ge-
ſtattete es nicht und John mußte am nächſten Morgen mit
ihr, Lucia, Flitt, Marianne Shadwell und der Irländerin
ſeine Reiſe antreten. Richard raste und mußte gebunden
werden. ö ö
Als Kätty am nächſten Morgen, ihr Kind auf den Ar-
men, das Gefängniß und ihren Gatten verlaſſen mußte,
vermochte ſie ihrer Wohlthäterin, der wackeren Dorothea,
uicht mit Worten zu danken; aber der heiße Thräuenſtrom,
welchen ſie auf Dorotheens Hand vergoß, neß dieſe die
Empfindungen ahnen, welche Jener das Innerſte zerriſſen
und ſie der Sprache beraubten. Ganz niedergedrückt von
ihrem namenloſen Schmerze, ſaß Kätty, in Geſellſchaft der
eben erwähnten dret Sträflinge, auf dem Wagen, welcher
die noch wenig belebte Straße durch die Morgennebel da-
vinrollte; und ihr Herz wollte ihr zerſpringen, gedachte ſie
au die Trennung von Richard und an das künftige Loos
ihres unſchuldigen William. Einen ſchreienden Contraſt
zu ihrer Niedergeſchlagenheit bildete die Frechheit und das
ausgelaſſene Betragen der übrigen Deportirten, welche un-
ter Schäkern und Lachen ihrem Ziele entgegenfuhren, und

ſich zuweilen wohl gar über Kätty's Traurigkeit luſtig

machren. Nach einer fünftägigen Fahrt und manchen Müh-
ſeligkeiten, welche ihnen die ſchlechte Straße und die Un-
bequemlichkeit des Karrens, der ſie transportirte, verur-
ſachte, erblickten ſie endlich am Morgen des fünften Ta-
ges Plymouth und die Einmündung der beiden Flüſſe Ta-
mer und Plym in die große Bay, durch die Nebel, welche
ſich über die Flächen gelagert hatten. Bald darauf er-
reichten ſie die Vorſtadt Plymouth-Dock, in welcher ſie
ausſtiegen und von den Conſtables nach dem Hafen ge-
leitet wurben, wo das Arreſtſchiff lag, welches die Un-
glücklichen bis zu ihrer Abreiſe aufzubewahren hatte.
John beſtieg mit den vier Weibern und zwei Solda-
ten einen Kahn, und ließ ſich zu demſelben überführen.
Länger als eine Glockenſtunde mußte er jedoch in der ſtin-
kenden Nebelfeuchte vor dem ſchwimmenden Gefängniſſe
harren, bis dem Kapitän ſeine Geſchäfte erlaubten, die
Ankömmlinge zu übernehmen. Endlich erſchien er am
Backbord deſſelben. Es war ein ſtämmiger, breitſchulteri-
ger Mann von rohem und abſchreckendem Aeußern. John
gab einem Matroſen, welcher die Strickleiter zu ihm her-
abkletterte, die Papiere, dir Uebergabe der Deportirten be-
treffend, welche dieſer ſogleich ſeinem Herrn hinaufbrachte.
Der Kapitän las brummend das eine Schreiben, die Liſte
der zu Deportirenden durch und unterzeichnete daſſelbe auf
dem Geländer des Schiffes, worauf es dem Schließer wie-
der zurück geſtellt wurde. Sodann entfaltete er ein zwei-
tes Papier und begann nun mit barſcher Stimme die Na-
men der Gefangenen abzurufen: „Lucia Flitt!“
Die Genannte ſprang von ihrem Sitze auf, kletterte
die Strickleiter zum Backbord hinan, und wurde oben von

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den dazu beorderten Soldaten übernom
Schiffsraum gebracht.
„Marianna Shadwell!“ rief der Kapitän wieder.
Auch dieſe kletterte empor und wurde, wie ihre Vor-
gängerin, in Empfang genommen.
„Ellen Fitzroi!“
Die Irländerin beſtieg das Schiff.
„Kätty Skenny!“
Da raffte ſich auch dieſe von ihrem Sitze auf, drückte
noch einen heißen Kuß auf die Hand des alten John, der
das Kind in die Arme nahm, bis ſie die Strickleiter er-
faßt haben würde. Kätty bat ihn in voller Haſt, noch
einen letzten Gruß und Dank ſeiner Dorothea zu bringen,
und ſchickte ſich ſodann an, die Leiter zu beſteigen. Schon
hatte ſie feſten Fuß auf derſelben gefaßt, und ſtreckte die
eine Hand nach William, welchen ihr John ſo eben rei-
chen wollte, als der Kapitän es bemerkte.
„Was gibt es da?“ rief er mit donnernder Stimme.
„Was ſoll das Kind auf dem Schiffe?“
„Herr Kapitän“, antwortete, durch dieſen plötzlichen
Einſpruch auf den Tod erſchreckt, die Gefangene mit faſt
tonloſer Stimme: „Es iſt mein Kind??
„Eine ſchuldloſe, verlaſſene Waiſe,“ ergänzte John,
ihm das Kind entgegenhaltend. ö
„Was kümmert mich der Range! Fort mit ihm!“
donnerte der Kapitän. „Das Kind gehört nicht auf das
Schiff!“ ö
„Wie!“ ſtammeite leichenblaß und ſtarr die Mutter.
„Arreſtantin herauf!“ rief der Kapitän. Halb ohn-
mächtig rang ſich Kätty hinan, ſank aber auf dem Boden
ſogleich erſchöpft zuſammen. „Führt ſie in den Schiffs-
raum“, befahl er jetzt den Soldaten, welche ſich ſofort ih-
rer bemächtigten: „und Du“, fuhr er zu John gewendet
fort, „entferne Dich ſogleich mit dem Rabengezüchte, wenn
Du anders mit dem ganzen Takelwerk an's Land kom-
men willſt.“
„Gnade! Gnade! Seid nicht unmenſchlich, Herr Ka-
pitän!“ wimmerte Kätty, während reiche Thränenſtröme
von ihren Wangen niederrollten und die Füße des Kapi-
täns benetzten, welche ſie umklammert hielt. „Trennt mich
nicht von meinem Kinde, dem Einzigen, was mir noch in
meinem Elende blieb!“
„Herr Kapitän!“ rief John, „nur ſo lange duldet das
Kind auf dem Schiffe, bis ich die Erlaubniß eingeholt
habe, daß es bei ihr bleiben darf.“
„Nichts da!“ antwortete Jener. „Das Kind ſteht
nicht auf der Liſte und ſomit gehört es nicht in das Ar-
reſtſchiff.“
„Um des Himmels Barmherzigkeit willen, Herr, laßt
mir mein Kind!“ rief die verzweifelnde Mutter; „laßt
mir meinen William und bringt mich nicht zur Raſerei.“
„Dafür gibt es Mittel,“ erwiederte Jener kalt. „Führt
ſie in den Schiffsraum!“
„Lieber todt, als getrennt von meinem Kinde“, ſchrie
Kätty und machte Miene, ſich in den See zu ſtürzen.
„Heiliger Patrik!“ ſchrie John, welcher noch immer
das Kind in ſeinen Armen hielt.
Die Soldaten hatten aber bereits Kätty an ihrem ra-
ſendem Vorhaben gehindert. „In die Kajüte mit der

men und in den
 
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