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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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„Ein Kind?“ wiederholte die alte Dorothea voll Er-
ſtaunen.
„Nun ja, das Kind jenes Weibes, fünf Monate alt;
man erlaubte ihr, es mit ſich zu nehmen und zu ſtillen.
Der Mann iſt eines Criminal-Verbrechens und das Weib
der Mitwiſſenſchaft bezüchtigt und das Kind geht darein.“
„Das unglückliche Würmchen!“ jammerte Dorothea.
„Ja wohl, unglücklich“. fuhr John finſter fort, „da

es ſchon jetzt die Gefängniſſe von Norwich kennen lernen-

muß, welche es ſpäter wahrſcheinlich als gereifter Böſe-
wicht aufnehmen werden, weil es in die Fußſtapfen ſeiner
Erzeuger trat. — Doch kommt und leert noch früher ein
Glas Bier,“ ſprach er zu Hardy, indem er ihm ein vol-
les Glas darreichte; „und dann laßt uns ſehen, daß wir
die Gefangenen unter Dach bringen!“
„Zu ſchuldigem Danke!“ erwiederte der Conſtable und
leerte das Glas auf einen Zug. ö
John rief hierauf ſeinen Knecht Cyles, welcher am
Kamine eine Laterne anzündete, nahm einen Schlüſſelbund
von der Wand und verließ mit ihm und Hardy die Stube,
nachdem er noch ſeinen dünnbehaarten Kovf mit einer Pelz-
mütze bedeckt hatte.
Unter dem hohen, düſteren, nur von einer Lampe er-
leuchteten Bogen, welcher in den inneren Gefängnißhof
führte, fanden ſie die neuen Ankömmlinge. Die Mutter,
ein Weib von einigen dreißig Jahren, ſaß auf der Stein-
bank in der Mauerniſche, das Kind in ihren Armen hal-
tend. Der Mann, nur wenige Jahre älter, ſtand unfern
von ihr mit verſchlungenen Armen, den Kopf auf die
Bruſt geſenkt. Einige Schritte von Beiden harrten vier
Soldaten, die Gitter, Gewölbe und Thüren des Gefäng-
nißgebäudes neugierig betrachtend, auf ihre Gewehre ge-
ſtützt. Der Schimmer der Laterne belehrte John, daß ſeine
Gäſte nicht zu der Klaſſe der gewöhnlichen Verbrecher ge-
hörten. Das Weib war noch immer hübſch zu nennen;
ihr dichtes, braunes Haar, auf dem Haupte ſchön geſchei-
telt, ſiel in natürlichen Locken und nachläſſig um ihre blei-
chen Wangen herab und gab ihr einen eigenthümlichen,
wehmüthigen Reiz; ihr Auge, das ſie nur auf das Kind
in ihren Armen gerichtet hatte, war auch jetzt noch ſchön
und lebhaft. Der Mann, eine ſchlanke, edle Geſtaͤlt, ein-
fach, aber reinlich gekleidet, ſchien von ſeinem Schickſale
tief gebeugt, und ſeine feingezogenen Lippen zuckten krampf-
haft; auch fuhr er ſich, als der Schließer nahte, mit der
flachen Hand mehrere Male heftig über die hohe, halb
von den Haaren bedeckte Stirn, wie Einer, der ſoeben aus
einem ſchrecklichen Traum erwacht und den die Schreckens-
geſtalten deſſelben geiſterhaft noch im wachen Zuſtande um-
ſchweben.

„Folgt mir,“ rief ihnen der Conſtable mit barſcher

Stimme zu und ſchritt über den Hofraum zu einer Thür

im Erdgeſchoße, die er öffnete.
Das Weib, welches ſehr ermattet ſchien, erhob ſich von
dem Steinſitze und folgte nebſt dem Gefangenen, von den
Soldaten umgeben. Sie traten in ein hohes, düſteres Ge-
mach, in welchem ſie den Oberaufſeher der Gefängniſſe,
einen grämlichen, alten Mann, und einen Unterbeamten
fanden. Der Oberaufſeher warf einen kalten, gleichgülti-
gen Blick auf die Eintretenden, ließ ſich ſodann von dem

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Schreiber einen Folianten von einem Geſtelle herablangen,
welchen er vom Staube ſäuberte, aufſchlug und eine Weile
in demſelben herumblätterte. Endlich tauchte er die Fe-
der in das Tintenfaß und fragte den Conſtable ohne auf-
dabl. „Die Zahl?“ — „Drei,“ antwortete der Con-⸗
able.
Der Oberaufſeher ſchrieb,
„Geſchlecht?“
„Ein Mann, ein Weib und ein Kind.“
„Beſtimmung?“
„Deportation.“
„Ort?“
„Botany-Bay.“
„Der Name deß Mannes?“
„Richard Skenny,“ antwortete Hardy. ö
„Ri — chard — Skenny,“ ſprach ihm jener nach, den
Namen bedächtig in das Buch einſchreibend. „Weiter!
Das Weib!“
„Kätty Skenny,“ antwortete mit ſchüchterner, aber
wohltönender Altſtimme das Weib, als der Conſtable ei-
nen fragenden Blick auf ſie warf.
„Kät — ty — Skenny,“ wiederholte der Oberaufſeher.
Weiter — —“
„Nichts weiter,“ verſetzte mit einem Male Richard.
„Das Kind iſt keines Verbrechens ſchuldig, ſo wie ſeine
Mutter; ſie ſind nur Genoſſen meines Elends! Der Ver-
brecher,“ fuhr er mit dumpfer Stimme fort, „bin nur ich.“
„Still!“ rief der Oberaufſeher, den Sprecher zornig
anblickend; „man erfreche ſich nicht zu reden, ohne gefragt
zu werden, ſonſt wird man anders mit Euch —“
Richard ſenkte den Blick zu Boden.
„Der Name des Kindes?“ fragte der Oberaufſeher
wieder. ö
„Wiiliam Skenny,“ erwiederte die Mutter mit
zitternder Stimme.
Der Oberauffeher ſchrieb wieder und beſtreute ſodann
das Geſchriebene. „Schließer!“ rief er nach einer Pauſe.
„Man lege die Gefangenen in Ketten und bringe ſie in
die Gefängniſſe.“ John verneigte ſich ſchweigend.
„Rechtsum!“ kommandirte ider Conſtable und Alle,
mit Ausnahme des Oberaufſehers der Gefängniſſe, und
des Schreibers, verließen die Stube. Vor der Thür der-
ſelben wurden beiden Gefangenen von Cyles und dem
Schließer Ketten angelegt und der Letztere ſprach zu dem
Knechte: „Cyles, Du führſt indeſſen den Mann in das
Gefängniß zu Knockdown und den Andern auf Nr. 75,
und harrſt dort meiner, bis ich das Weib auf Nr. 3 un-
tergebracht habe.“
„Richard!“ rief Kätty plötzlich in dem heftigſten Schmerze
und flog an ſeinen Hals.
„Kätty! Kätty!“ ſtöhnte dieſer, ſie ungeſtüm umſchlin-
gend. „Verzeihe, o! verzeihe, um meiner Liebe willen.
Kätty konnte nicht mehr ſprechen und ſchluchzte heftig;
das Kind in ihren Armen, durch die heftige Bewegung der
Mutter und das Kettengeklirr aus dem Schlafe geweckt,
weinte ebenfalls.
„Fort! fort!“ rief Hardy; ich muß mir noch Eure
Uebernahme beſtätigen laſſen, was bei dem bedächtigen
Sir Francis Jackſon nicht ſo ſchnell geht.“

und fragte dann wieder:
 
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