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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 71 - Nr. 78 (4. September - 28. September)
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ſters Reiner in ihrem Betichen, das in der Schlafkam-
mer dem Bette ihres Vaters gegenüber ſtand.
Marie war, nachdem ſie mit dem Vater von der
gnädigen Frau aus dem Schloſſe fortgeſchickt und von
Reiner nach Hauſe gebracht worden, wieder zu vollem'
Bewußtſein ihres Schmerzes um die verblichene Freun⸗—
din ihrer Jugend gelangt. ö
Mehrere Stunden war ſie zu Hauſe noch wach ge⸗—
blieben, fortwährend heiße Thränen vergießend. End-
lich aber hatte ſie den Bitten des Vaters nachgegeben,
ſich entkleidet, und niedergelegt. ö
Der Schulmeiſter, der das geſtorbene Edelfräulein,
das ſeine Schülerin geweſen und ihm für den ihr ge-
gebenen mühevollen Unterricht mit der Zärtlichkeit eines
Kindes gedankt, betrauerte die Kleine kaum weniger
als Marie es that. Aber er war ein vom Leben hart-
geprüfter Mann, der ſchon früh ſeine Gattin und mit
ihr drei liebe Kinder auf dem Friedhofe hatte. Er
hatte ſich bei dieſen neuen Verluſt — Bertha hatte ihn
ja auch oft ihr gutes Väterchen genannt — männlich
zu faſſen und Marie zu tröſten verſucht.
Milde, beruhigende Worte an ſein Kind richtend,
und in dem Glauben, da es zu ſchluchzen aufgehört,
es ſei eingeſchlafen, waren ihm die Augen zugefallen.
Aber der gute Reiner hatte fich geirrt.
Marie ſchlief nicht, ſie ſtellte ſich nur ſchlafend, um
den Vater nicht mehr zu betrüben.
Lebhafte, wenn auch kindiſche Gedanken hielten ihren
Geiſt wach.
Ihre Phantaſie ließ die bleiche b
in lebensvoller Stärke vor
ſcheinen.
Ich liege hier im warmen Bettchen dachte ſie, und
Bertha in dem kalten dunkeln Sarge und Niemand iſt
bei ihr, der ihr Worte der Liebe zuflüſtert. Die ganze
Nacht muß ſie einſam und verlaſſen daliegen, ohne daß
ſich ein Menſch um ſie bekümmert. Ach, das iſt trau-
rig, bitter traurig. ö
Dieſen Gedanken, die ihr aufs Neue Thränen er-
preßten, folgten bald andere, die ſie zu einem raſchen
Entſchluſſe brachten. ö
„Nein, nein, Du ſollſt nicht allein bleiben in dieſer
fürchterlichen Nacht,“ murmelte ſie. „Ich komme zu
Dir. Ich habe ja ſo noch nicht Abſchied von Dir neh-
men können. Man riß mich grauſam von Dir weg,
ehe ich die letzten Küſſe auf Deine blaſſen Lippen drücken
konnte. Ich will es jetzt noch thun. Der Weg zum
Schloſſe iſt nicht weit. Ehe es Morgen wird und der
Vater erwacht, bin ich wieder zu Hauſe. Ja, ich komme,
liebe Bertha, ich komme zu Dir.“

ekränzte Freundin
ihrem innern Auge er-

der auf ihrem Stuhl lagen. Sie ſchlich an das Bett
ihres Vaters. Seine tiefen Athemzüge ſagten ihr, daß
er feſt ſchlafe. Schnell ſchlüpfte ſie in ihre Kleider
und verſchwand mit unhörbaren Schritten aus der
Kammer. Dann öffnete ſie die leicht verriegelte Haus-
thür und trat eiligſt den Weg nach dem Schloſſe an.

Unterwegs beunruhigte fie der Gedanke, wie ſie, da!

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die Thüren wahrſcheinlich alle verſchlo
das Schloß gelangen möchte.
Aber ſie erinnerte ſich bald, daß eines der Stuben-
mädchen, eine frühere Schülerin ihres Vaters, mit der
ſie wohlbekannt, in einer Stube ſchlief, welche dicht an
der Hinterpforte des Herrnhauſes lag.
Ich werde die Dörthe aus dem Schlafe pochen,
dachte ſie. Wenn ich ſie bitte, läßt ſie mich ein. Hat
ſie doch bei uns manche frohe Stunde verlebt.
Was ſie wünſchte, ging in Erfüllung. Nachdem
Marie lange an das niedere Fenſter gepocht, erwachte
Dörthe, öffnete das Fenſter und fragte, wer da ſei.
Marie nannte ihren Namen und bat um Einlaß
mit der Verſicherung, daß ſie vor dem Morgengrauen
das Schloß wieder verlaſſen wolle.
Das gutherzige Mädchen ward gerührt. Die Pforte
öffnete ſich und Marie ſchlich leiſe die breite Treppe
hinauf, die zu dem Trauerhauſe führte. Sie fand die
Thür nur angelehnt und trat ein. Da der feſtſchla
fende Diener fern vom Sarge ſaß, ſo ſah ſie ihn nicht
und ſtieg die beiden Stufen des Katafalks hinauf. ö
„Siehſt Du, theure Spielgefährtin,“ flüſterte ſie,
„nun bleibſt Du die lange traurige Nacht nicht allein.
Ach, Deine Hände und Dein Geſicht ſind ſo kalt. Aber
ich will Dich ſchon erwärmen. Wir wollen uns ſo feſt
an einander ſchließen, wie wir früher oft im Winter
thaten, wenn Du zu dem Vater kamſt und die Stube
noch nicht geheizt war. Das wird Dir wohlthun, Du
bleicher Engel, das wird Dir wohlthun.“
Indem ſie ſo ſprach, ſchwang ſie ſich auf den ziem-
lich breiten Sarg hinauf, umfaßte die Entſchlafene mit
beiden Armen und lehnte ihre Wange an die der Freun-
din. So blieb ſie liegen, fortwährend dem Leichnam
Liebesworte zuhauchend. ö
Endlich erſtarben ihre Worte in leiſem Flüſtern.
Die ermüdete Natur trat in ihre Rechte. Nachdem 2
Stunden verfloſſen, ſchlief, dicht an daſſelbe gedrängt,
das lebende Kind neben dem todten.

ſſen waren, in

Zbweites Kapitel.
Das Pflegekind.

Die Morgenſonne des ſchönen Maitages, an dem
Bertha in die Gruft der Familie Handorf geſenkt wor-
den ſollte, weckte den Schloßherrn ſchon in frühſter
Stunde. Erſt ſpät eingeſchlummert, war ſein Schlaf
unruhig und voll beängſtigender Träume geweſen, deren
er ſich beim Erwachen- aber nicht mehr zu erinnern
vermochte. ö ö
Herr von Handorf ſtand raſch auf und kleidete ſich
an, ohne die Hülfe eines Bedienten in Anſpruch zu
nehmen. Doch war es nur ſein gewöhnlicher Haus-
rock, in den er ſich hüllte, die Trauerkleidung wollte er
erſt ſpäter, in der Stunde anlegen, wo man ſein ge-
liebtes Kind hinwegtragen würde.
Der Greis trat an's Fenſter, das einen Blick nach

dem Garten hinaus gewährte.
 
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