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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 1 - No. 8 (5. Januar - 29. Januar)
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Heidelberger Familienh

laͤtter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Samſtag, den 29. Januar

1876.

Drei Meihnachten.
Erzählung von Ernſt Wicher t.
Fortſetzung.

Keine Minute ſpäter lag der Mann, der im Flur
Pelz und Hut abgeworfen hatte, zu ihren Füßen, und
ſie hatte die Arme um ſeinen Nacken gelegt und ſchluchzte:
„mein Sohn — mein verlorener Sohn!“ — Bruder
und Schweſter richteten ihn auf, Schwager und Schwä-
gerin kamen, ihm die Hand zu ſchütteln, die Kinder
ſtanden zuſammengedrängt in der Ferne, Tante Lorchen
weinte in ihr Tuch, und die Lichtchen auf dem Tannen-
baum ſchienen heller aufzuflammen. Der fremde Mann
aber machte ſich die Arme frei, legte die Hände in
einander wie zum Gebet und rief: „endlich, endlich wie-
der einmal ein deutſcher WeihnachtsbPaum! Mutter —
Schweſter — Bruder, wie ich mich danach geſehnt habe
alle die Jahre.“— Helle Thränen liefen ihm über die
Backen herab.
„Daß ich's erlebe!“ jubelte die alte Frau — „o
die Weihnachtsfreude.“ Und wieder folgten Umarmungen
auf Umarmungen; die Kinder mußten hervor und ſich
mit dem Onkel bekaunt machen, und dann gab's Fragen
über Fragen, daß er gar nicht ſchnell genug darauf ant-
worten konnte und Tante Lorchen hielt ihm von Zeit zu
Zeit ihren bunten Teller hin, immer mahnend: „ſo laßt
ihn doch erſt etwas eſſen!“ — ö
Der Regiſtrator Hammer war bis an ſein ſeliges
Ende ein gewiſſenhafter und pflichtgetreuer Beamter ge-
weſen, aber alle ſeine Tugenden hatten ihm im Leben
wenig mehr eingebracht, als die Hoffnung der Gerechten,
daß ihnen der Himmel einmal reichlich einbringen werde,
was die Erde zu wünſchen übrig ließ. Er hatte ſich's
allezeit ſauer werden laſſen, von dem ſchmalen Gehalt
ſich und ſeine Familie „anſtändig“ durchzubringen, und
er hielt auf Anſtand, worunter er die ganze Summe der
Verpflichtungen begriff, die den Lebenswandel einer ge-
wiſſermaßen öffentlichen Perſon zu regeln hatten. Sein
Einkommen war für alle Bedürfniſſe genau eingetheilt
und mußte zureichen; blieb dabei viel Wünſchenswerthes
zurück, ſo verſtand es ſich doch ganz von ſelbſt, daß
darauf zu verzichten war. So hätte er gewiß gern ſeine
Söhne ſtudiren laſſen, aber die Mittel reichten ihm nicht
dazu und ſo war die Sache abgethan. Arnold, ein recht
befähigter Knabe, mußte nach der Einſegnung die Schule
verlaſſen und das Handwerk eines Hutmachers erlernen.
Der Sohn fügte ſich, aber mit ſchwerem Herzen. Er
war überhaupt der gerade Gegenſatz des Vaters, eine
unruhige, etwas leichtfertige, lebhafte Natur, die ſich ſchon
früh in der häuslichen Enge mit allen ihren Ein-
ſchränkungen gedrückt fühte. Es wurde ihm fortwährend
lediglich aus öconomiſchen Gründen ſo viel befohlen und
verboten, daß er ſich wie in einem Gefängniß fühlte, aus
dem dann ſo oft als möglich auszubrechen und die Frei-
heit zu ſuchen ihm durchaus keine Sünde ſchien. So
gab es ewige Klagen, Zurechtweiſungen, Strafen und

was er auf jenen verwandt.

Bureauſtunden des Vaters.

für den ehrſamen Regiſtrator ſtand es feſt, daß ſein
Junge alle Anlagen zu einem Taugenichts habe, an dem
er nur ſeine Schande erziehe. Die Mutter, die mit
freierem Blick die Verhältniſſe überſchaute, dachte freilich
beſſer von ihm und entſchuldigte ihn oft genug in ihrem
Herzen, aber damit wuchſen doch nur ihre Sorgen, da
ſie zu helfen nicht vermochte. Arnold zählte die Tage
ſeiner Lehrzeit und nahm ſich vor, nicht einen einzigen
darüber hinaus im Hauſe ſeines Vaters zu bleiben; als
Geſelle hatte er ja eigenen Erwerb, konnte ſich alſo un-
abhängig machen.
Das ſtieß nun aber wieder gegen alle Voraus-
ſetzungen des alten Herrn. Er hatte gemeint, ſein Sohn
werde ſeinen Verdienſt in die Wirthſchaftskaſſe einwerfen
und ihm damit allmählig einen Theil deſſen einbringen,
Es kam zu einer ſehr hef-
tigen Auseinanderſetzung und Arnold beſuchte ſeitdem
ſeine Mutter und Geſchwiſter nur noch während den
Er verrechnete ſich übrigens
ſehr bald in dem, was er mit ſeinem Verdienſt ausrichten
könnte, lebte luſtig in den Tag hinein, um endlich ein-
mal ſeines Daſeins froh zu werden und bemerkte zu
ſpät, daß ihm allerhand Verbindlichkeiten über den Kopf
wuchſen. Er verſetzte ſeine Kleider, ſeine Uhr, ſelbſt
Materialien ſeines Meiſters, die ihm anvertraut waren,
und wußte zuletzt keinen anderen Ausweg, als ſich reu-
müthig ſeinem Vater zu entdecken und um deſſen Hülfe
zu bitten. Sie wurde gewährt, aber unter ſo harten
Bedingungen, wie der Regiſtrator zur Beſſerung ſeines
ungerathenen Sohnes für geboten hielt. Arnold mußte

ins elterliche Haus zurück und die ſtrengſte Controle

leiden. Er verſtand ſich zu Allem, nur um der augen-
blicklichen Noth überhoben zu werden und mit dem ge-
heimen Vorbehalt, ſich wieder frei zu machen, ſobald ſeine
Schuld als getilgt angeſehen werden könne. Aber ſo
lange hielt er's nicht einmal aus. Jetzt erſt zeigte ſichs
recht augenfällig, wie weit Vater und Sohn in allen
Lebensanſchauungen auseinandergingen, da es häufiger
zum Austauſch von Meinungen kam. Für die peinliche
Gewiſſenhaftigkeit des Beamten, für ſeine devote Haltung
gegen Vorgeſetzte, für ſeinen patriotiſchen Eifer, für ſeine
conſervative Geſinnung hatte Arnold gar kein Verſtänd-
niß und jener wieder ſah in dem Streben nach Erwei-
terung des Lebensplanes, in dem Vergnügen am Umgang
mit heiteren jungen Leuten, in allen Aeußerungen des
jugendlichen Freiheitsgefühls nur eitel Windbeutelei.
Nicht die Zeitung konnte geleſen werden, ohne daß es
lauten Hader gab. Die Mutter ſah mit Angſt und
Sorgen die Kluft zwiſchen den zwei Gleichgeliebten weiter
und weiter werden und konnte ſie doch nicht füllen.
Eines Sonnabends kehrte Arnold von der Arbeit nicht
heim — er hatte ſich mit ſeinem Wochenverdienſt auf
und davon gemacht, ohne auch nur eine Zeile zu hinter-
laſſen. Dem Vater galt er für todt, aber der Mutter
ſchwand die Hoffnung nie ganz, daß ſie ihn noch einmal
wiederſehen werde.
Das Alles blieb nun unerwähnt; man ſcheute ſich
 
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