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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 70 - No. 78 (2. September - 30. September)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

70.

Samſtag, den 2. September

1876.

Berborgene Aualen.
Novelle von F. L. Reimar.

Schluß.)

Wieder machte ſie eine Pauſe und Herr von Fergent,
der glauben mochte, daß ihre Gedanken noch ſchmerzvoll
bei der Vergangenheit, die ſie ihm enthüllt hatte, ver-
weilten, ſagte tröſtend: ö
ö „Wenn man den Hafen erreicht hat, lernt man ruhiger
an die Stürme denken, die man durchgemacht hat, und
ſo werden auch Sie allmälig vergeſſen — —“
„Vergeſſen ſoll ich?“ unterbrach ſie ihn haſtig, „und
im Hafen wäre ich, glauben Sie? Hören Sie erſt wei-
ter und urtheilen Sie dann, ob ich Vergeſſen und Ruhe,
die in das Paradies gehören, je wiederfinden kann!“
Hatte ſie bis dahin verhältnißmäßig gelaſſen erzählt,
hatte ſie von ihrem Leben als von freilich Traurigem,
aber doch hinter ihr Liegendem geſprochen, ſo ward ihre
Schilderung nun aufgeregter. — Kurz nur gedachte ſie
des Friedens, der nach und nach über ſie gekommen, ſeit

ſie an dieſer Stätte weile, flüchtig nur ließ ſie es r⸗

kennen, wie bie ſtarre Rinde, die ſich um ihr Gemuth
gelegt, leiſe geſchmolzen ſei, als ſie ſich von Fergents Ach-
tung, der Freundſchaft ſeiner Schweſter getragen gefühlt
habe: ſie hatte an den Moment anzuknüpfen, wo Guſtav
Stern zum zweiten Mal in ihr Leben getreten war.
Nichts, nichts verhehlte ſte in dieſer Stunde, und
was ſie ſich ſelbſt lange mit aller Kraft der Seele ab-
geleugnet hatte — dem, welchem ſie nun beichtete, legte
ſie es offen dar, daß ihre ganze Leidenſchaft in jenem
Augenblick auf's Neue erſtanden war, ſie alle Qualen
derſelben noch einmal hatte empfinden laſſen.
Und dann — wie ſie die grauſame Täuſchung be-
richtete, in die Silkenitz' Worte ſie verſetzt hatten, wie
ſie das Entzücken malte, welches ihr Weſen auf den
Gipfelpunkt irdiſchen Seins erhoben, und das Elend, was
ſie in die tiefſten Tiefen deſſelben zurückgeſchleudert hatte,
ſo führte ſie die Nacht herauf, welche ihre Sinne ver-
dunkelt und ihre Seele in die Gewalt entſetzlicher Dä-
monen gegeben hatte.

Hätte ſie in dieſer Stunde vor dem höchſten Gericht

geſtanden, ihr Ankläger hätte nicht unbarmherziger ihr
verborgenes Trachten aufdecken, nicht klarer und wahrer
ihre Schuld hinſtellen können, als ſie ſelbſt es that, die
vor einem irdiſchen Menſchen ihre Beichte ablegte! Als
wäre er ihr Richter, als habe ſie aus ſeinem Munde
üͤber Leben und Tod ihr Urtheil zu empfangen, ſo de-
müthig hatte ſie ſich auf die Kniee vor ihm geworfen,
ſo angſtvoll und flehend zugleich hob ſie ihre Hände zu
ihm auf.
Ihre Erzählung hatte ihn ſichtlich ergriffen; ſein
Antlitz war bleich geworden und tiefer Ernſt lag auf
ſeinen Zügen, dennoch erloſch nicht der Strahl der Güte
in ſeinen Augen. Er beugte ſich zu ihr nieder und ſagte:
RMichten Sie ſich auf, Hedwig! Ich vermag milde
über Ihr Fehlen zu denken — ſollte denn Gott härter
ſein wollen, als ein Menſch?“

Sie erhob ſich langſam, von ſeinem Arm unterſtützt,
während heiße Thränen über ihre Wangen floſſen, die
ihr innerſtes Herz zu weinen ſchien.
Eine Weile hemmte er den Erguß nicht, dann ſagte
er leiſe:
„Sprechen Sie es nur aus, Hedwig, daß Ihr Herz
immer noch nicht zur Ruhe kommen will, daß es ſchwankt
zwiſchen ſeinem Haß und ſeiner Liebe?“ ö
Sie ſchüttelte den Kopf: „Der Kampf iſt zu Ende;

Liebe und Haß haben ihre Macht verloren, und darum,

weil mir nicht die eine, nicht der andere mir Kraft lieh,
brach ich zuſammen an meinem Bewußtſein. Ich fühlte
mich wie eingeſargt bei lebendigem Leibe — was mich
von der Vernichtung ſchied, war das brennende Ver-
langen einem Menſchen, einem Einzigen nur alles zu ſa-
gen: er ſollte mich ſchuldig ſehen, aber er ſollte mich wahr-
haftig finden.“
Er ſagte kein Wort, daß er ihr für ihr Vertrauen
dankte, aber er nahm wieder ihre Hand und behielt ſie
in der ſeinen.
„Und nun, Hedwig?“ fragte er.

„Nun iſt mir,“ ſagte ſie, und zum erſtenmal hob
ſich ihre Bruſt unter tiefem Athemzuge, „als hätte ich
mit der Welt abgeſchloſſen und als dürfe ich noch ein-
mal anfangen, zu ringen, zu ſterben — meinetwegen
hun zu dulden,“ fügte ſie mit einer Art von Lächeln
inzu. —
„Und wie etwa haben Sie ſich Ihre Zukunft ge-
dacht?“ fragte er. ſe Ihre Znkunſt g
„Mich hat erſt dieſe Stunde fähig gemacht, an ſie
zu denken,“ entgegnete ſie, „aber mein Weg wird ſich
finden, wenn ich ihn dort ſuche, wo Arbeit und Ent-
behren, Helfen und Dienen mein Theil iſt.“
Er ſah ſie theilnehmend und forſchend einige Augen-
blicke an.
„Sie haben Recht,“ ſagte er dann, „es wird zu
Ihrem Frieden dienen, wenn Sie die Kräfte, die Gott
Ihnen gegeben hat, thätig entwickeln, und venn Sie ſich
Andern hingeben, werden Sie ſich ſelbſt erſt völlig wieder-
finden. Ein anderes Recht aber habe ich — Sie ſelbſt
haben es mir in dieſer Stunde über ſich gegeben, laſſen
Sie mich es ausüben, indem ich Ihnen Ihren Pfad weiſe,
laſſen Sie mich Ihren Arzt und Ihrer Vormund wer-
den, Hedwig!“
Er las in ihren Augen, was ihr Mund nicht aus-
ſprach, daß ſein Wunſch, ſein Wille ihre Richtſchnur
ſein ſollte. ö
„Die Reiſe, von der ich heimkomme,“ begann er,
„galt einer Trauernden, und meine Gedanken kehren zu
ihr zurück, während ich mit Ihnen rede.“
Er erzählte ihr dann von einer jungen Frau, einer
Verwandten, die vor Kurzem unter erſchütternden Um-
ſtänden Wittwe geworden ſei, indem ihr Mann ſich we-
gen eines ſeine militäriſche Ehre betreffenden Vorfalles
erſchoſſen habe und fügte hinzu, wie er von dem Drange

bewegt worden ſei, ſich der unglücklichen Verlaſſenen an-
zunehmen.
 
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