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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 96 - No. 104 (2. December - 30. December)
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Heidelberger Familienblätter.

Beletriſtiſcee Beilage zur Heidelberger Zeitung.

* 102. Samſtag, den 23. December 1876.
Baleska Valeska ſank am Stamm der Gebüſche in das naſſe

ö braune Gras und verhüllte, unfähig, länger zu ſtehen,

Novelle von S. v. d. Horſt. länger die Schauer von Tropfen zu ertragen, ihr Geſicht
(Schluß.) mit dem Tuch. Dumpfe Muthloſigkeit, eine quälende

Planlos wanderte ſie aus dem Stadtthore hinaus,
wie Adolph befohlen hatte, und pflückte ſich auf den ein-
ſamen Wegen die letzten grünen Epheublätter, die letzten
halbverdorrten Haideblümchen zum Strauß — ein An-
denken an Europa, wo ſie die alte Mutter zurückließ auf
ewig, wo ihr Kind ſchlummerte in ferner Erde.
Valeska dachte des gefangenen freundloſen Mannes,
den ſie doch einſt geliebt hatte, wenn auch nur in unbe-
wußter Täuſchung und zu ihrem eigenen Elend. Sie
fühlte unwillkürliche Rührung ihre Seele durchbeben und
ein Etwas, wie das Verſtändniß für Worte, welche ſie
aus Adolphs Munde mehr als einmal ſchmerzlich verletzt
hatten, dämmerte auf aus dem Chaos wild durcheinander
fluthender Empfindungen. ö
Die junge Frau ſtreckte, als wollte ſie den Ver-
laſſenen grüßen, zum letzten Mal die Hand aus gegen
Lübeck und vergab im innerſten Herzen Alles, was er ihr
an bitterer Kränkung zugefügt, jede ſchlimme Stunde,
jedes böſe kalte Wort — —
Es war jetzt faſt ganz dunkel, und langſam, durch-

ſchauert von eiſigem Fröſteln, wandte ſich Valeska zu

jener Stelle, an der ſie den Geliebten bereits zu treffen
hoffte. Es war ihr, als ſei nur ſie allein mehr lebend
in dem ganzen ſturmdurchtobten All, als habe man ſie
vergeſſen und die Schrecken des Weltuntergangs herauf-
beſchworen, um ihr, der einzig Athmenden, das furchtbar
fahren. Schauſpiel der Vernichtung vor Augen zu
ühren. ö
Von der Ferne her ſchlug das Brauſen des hoch-
gehenden Waſſers an ihr Ohr und erfüllte ſie mit neuer
banger Furcht. ö
„O, wenn doch Adolph hier wäre — wenn ich nur
ſeine Stimme hörte,“ dachte ſie, voll heftiger Angſt den
Schleier zurückſchlagend, um beſſer die Dunkelheit durch-
dringen zu können. „Wenn nur irgend Jemand bei
mir wäre!“ꝰ“
Sie näherte ſich der vorſpringenden Stelle, wo er
vielleicht ſchon ihrer harrte, und fühlte, daß die Luft wie
feine feuchte Perlen ihr Antlitz berührte, ſie ſah ſich bald
ganz überſchüttet mit einem Regen kleiner windgetragener
Tropfen und bemerkte, daß überall die Trave ihr Ufer
verlaſſen hatte. Weder Adolph noch ſonſt irgend eine
unppreß. eſheinung war zu ſehen, kein Boot weit
und breit. — ö

Valeska hielt mit beiden Händen Hut und Tuch und

ſpähte voll innerer Angſt über die ſchwarzen Wellen. —
Bald glaubte ſie hier, bald dort auf denſelben ein Boot
zu erkennen, dann wieder hörte ſie Stimmen. Sie rief
ſo laut als es ihr möglich war, in nicht zu bewältigen-
dem Grauen; ſie weinte und ſchluchzte:
mein Gott, verlaſſe mich nicht! — Adolph!“ — Kein
Laut antwortete ihr; nur der Sturm heulte und das
Waſſer brauſte.

„Adolph — o

Furcht vor demſelben Tode, den ſie noch erſt kürzlich frei-
willig an dieſer Stelle hatte aufſuchen wollen, erfüllten
ihre Seele. Wieder und wieder lauſchte ſie, wieder rief
ſie mit aller Kraft ihrer Lungen.
Kein Ton aus Menſchenbruſt ließ ſich hören!
„Ich ertrage es nicht länger!“ dachte ſie endlich,
„ich werde wahnſinnig in dieſer Einſamkeit, dieſer Nähe
des Waſſers — ich gehe nach Lübeck zurück.“ ö
„Im dunkelſten Kerker muß es freundlicher ſein, als
hier, und überdies bin ich ja unſchuldig, habe Nichts
und Niemand zu fürchten!“ ö ö
„Ha, was iſt das?“ ö
Sie griff voll Angſt in die Gebüſche, als wolle ſie
ein Etwas erfaſſen, das ſo plötzlich mit Eiſeskälte an ſie
herangekrochen war, das ſie zu umarmen ſchien, wie uns
der kalte Stahl berührt — erſchreckend, mit Schauder
erfüllend. — ö
Hell auf ſchrie ſie im jähen namenloſen Entſetzen:
„Waſſer! — Waſſer! — die Trave!“ ö
Bis zum Niveau des hoͤher belegenen Streifens war
die empörte Fluth hinangeklettert, ſilbern und ſchwarz
ſpielte ſie um die Füße der einſamen Frau.
Inſtinctmäßig in der ſchleunigſten Flucht Rettung
ſuchend, wollte die Unglückliche ohne weitere Ueberlegung
vorwüͤrts eilen, aber ihre wirren Blicke ſuchten vergebens
den ſchmalen Pfad, welcher an das Land führte — von
beiden Seiten hatten ihn, der niedriger lag, als die vor-
ſpringende Spitze, laͤngſt die Wellen überſchwemmt.
Rothe und gelbe Lichter tanzten vor den Augen
Valeska's — mit ausgeſtreckten Armen tappend, halb
irrſinnig vor Grauen, ſuchte ſie den einzigen Rettungs-
weg. —ͤ ö ö
Wohin ſie treten wollte, da fühlte der Fuß keinen
Grund mehr, und als ſie endlich an einer Baumgruppe
in plötzlich aufblitzender Erinnerung den geſuchten Land-
ſtreifen erkannte, da faßte ſie das Waſſer, bis faſt unter
ihre Arme reichend, mit ſolcher Gewalt, daß ſie nur
durch einen ſchnellen Sprung rückwärts ſich aus dem
gänzlichen Verſinken rettete. Wieder zu den Gebüſchen
flüchtend, welche ſie eben erſt verlaſſen und bis über die
Knie im Waſſer ſtehend, klammerte ſich Valeska feſt an
die kahlen Zweige; ihre Gedanken gehorchten dem Willen
nicht mehr; ſie war halb bewußtlos. ö
Verloren — verloren! — Ihr Tod war gewiß.
Daſſelbe Waſſer, in dem ſie einſt vergeblich Ruhe
geſucht, als ihr das Leben unerträglich ſchien — daſſelbe
Waſſer kam jetzt heimtückiſch, verrätheriſch, und forderte
ſein verfallenes Opfer, nun die Thore des Glückes weit
geöffnet vor ihr lagen, nun das Daſein ein unſchätzbares
Gut war, jede Sekunde Gewinn. Arg und ärger
donnerte der Sturm, wie eine Schaar losgelaſſener Höllen-
geiſter kochte die brandende Fluth. ö ö ö
Beide Arme um die blattloſen Stämme geſchlungen,
hoch und immer höher vom Waſſer umſpült, erwartete
 
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