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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 96 - No. 104 (2. December - 30. December)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 97.

Mittwoch, den 6. December

1876.

Ualeska.
Novelle von S. v. d. Horſt.
(Fortſetzung.)

„Er liebt ſie nicht, kümmert ſich nicht um ſie, ver-
mißt ſie nicht!“ grollte der junge Mann — „o mein
Gott, iſt denn ſolches Band, von dem die Herzen nichts
wiſſen, doch noch ein Heiligthum?' — Wie würde ich
dies ſüße Geſchöpf bewahrt haben, wie mein theuerſtes
Kleinod, wie hätte ich mich reich, überreich geſchätzt durch
ihre Liebe — und er — der Verlorene, dem ſie ganz
gleichgültig iſt, ſteht zwiſchen ihr und mir!“ ö
„Faſt glaube ich, ſie hat Recht, beſſer wäre es, ich
käme niemals wieder!“
Am andern Morgen ging er zum Bahnhofe, ohne
in ihrem Zimmer ein Geräuſch gehört zu haben, ohne
ihr begegnet zu ſein, aber als er nochmals empor ſah zu
dem Fenſter, hinter welchem er ſeine glücklichſten Stunden
verträumt, da gewahrte er ſie, die ihn nicht fortgehen
laſſen konnte, ohne noch einen Blick ihm nachzuſenden.
Tiefer Purpur überflog ihre Wangen, als er ſie grüßte,
als ſie ihn lächeln ſah, ſo dankbar, ſo liebevoll — —
Valeska ſchluchzte wie eine Verzweifelte. „O, ich
bin wahnſinnig — wahnſinnig,“ dachte ſie, „ich ſetze mich
herab in ſeinen eigenen Augen. Er ſelbſt wird mir am
wenigſten jemals verzeihen, daß ich ihm dieſe Liebe ſehen
ließ, die doch Sünde iſt.“
Sie verbarg das Geſicht in den Händen und ſchau-
derte, als durch die ſtille Morgenluft das grelle Pfeifen
der Locomotive zu ihr herüber klang. „Wenn das ein
Abſchied geweſen wäre?“ durchfuhr es ſie, „wenn er
nicht wiederkäme — und ich hörte nie ein Wort mehr
von ihm ?“ — ö
„Gott, Gott, laß mich ſterben — mich haſt du ver-
geſſen und verlaſſen unter Allen!“ ö
Sie warf ſich wieder auf ihr Bett, um vor den
Augen des Dienſtmädchens krank zu ſcheinen, aber den-
noch brannte in ihr die furchtbarſte Ungeduld, erſt einige
Stunden weiter zu ſein und wieder ganz allein — dann
wollte ſie in Adolph's Zimmer nachforſchen, ob auch mög-
licher Weiſe an eine Flucht auf Nimmerwiederſehen zu

denken ſei, wollte ſich überzeugen, daß er zurückkäme. —
Endlich, endlich war Herr v. Leisrink fortgegangen, wie

an jedem Morgen, ohne nach ihr zu fragen, — endlich
konnte ſie das Dienſtmädchen in die Apotheke ſchicken,
um nur ihre neugierigen Blicke von ſich fern zu halten
— dann eilte ſie in das Zimmer des jungen Mannes
und ſchloß aufathmend hinter ſich die Thür, um ungeſtört
nachforſchen zu können. Alle Kleinigkeiten des täglichen
Gebrauches lagen und ſtanden wie immer an ihren
Plätzen, ſelbſt die Hausſchuhe hatte er zurückgelaſſen und
den Rock, welchen er gewöhnlich zu tragen pflegte. —
Nein, nein, ſie ſollte ihn wiederſehen — er war
nicht geflohen!“ ö

Valeska fühlte einen Freudenſturm berauſchend ihr — Sie las es klopfenden Herzens, voll Wonne, voll

Herz durchzucken, wie ſie ihn nicht mehr gekannt ſeit

war.

langen trüben Jahren. Jeder andere Gedanke, alle Vor-
ſätze und alle Vernunft erblaßten vor dieſer einen Leiden-
ſchaft, welche ſie um ſo gewaltiger erfaßte, weil ſie nur
noch das einzige Band mit dem Leben bildete. Weiter
und weiter ſuchte die zunge Frau, bis ihr in der Bruſt-
taſche des Rockes — vielleicht vergeſſen aus eigener Ver-
wirrung — die Brieftaſche Adolph's entgegenſchimmerte.
Verlangend ſtreckte ſie die Hände aus, unwiderſtehlich
lockte der Gedanke, hier möglicherweiſe Dinge zu ſehen,
welche ſie perſönlich angingen. — Es war ein Raub,
ein unrechtes Gut, aber dennoch — dennoch. —
Zweimal zog Valeska die Hand zurück, ſtand auf
dem Punkt, zu fliehen, ehe die Verſuchung ſie beſiegt
hatte — dann fiel ihr ein, daß ja ſo leicht die Magd
weniger discret ſein könne, als ſte ſelbſt, und hinter
dieſem Scheingrunde ſuchte ſie Schutz vor der anklagen-
den Stimme ihres Inneren. Schnell wie der Gedanke
verſchwand das Portefeuille in der Taſche ihres Kleides
und Valeska begab ſich wieder in ihr Zimmer, wo ſie
kaum früh genug ankam, um geſtützten Hauptes, brennend
in nicht erkünſtelter Fieberhitze, das ausgeſchickte Dienſt-
mädchen empfangen zu können. Nachdem ſie ſich verſchie-
dene kleine Dienſtleiſtungen hatte gefallen laſſen, befahl
ſie, ferner Niemand mehr den Eintritt zu geſtatten, und
ſchloß hinter der Fortgehenden die Thüre, um allein zu
ſein mit dieſer Brieftaſche. Was in aller Welt konnte

es dem jungen Manne ſchaden, wenn ſie ſeine Papiere

durchſah! Ueberdies würde er ſchwerlich wichtigere Do-
kumente ſo leichtſinnig verwahren. —
Sie beſah von allen Seiten das unverſchloſſene
Portefeuille und bog die Blätter auseinander; immer
inniger wurde der Wunſch zu erfahren, was da notirt
Dann glitt das verbrauchte Leder aus den Falten
und nun lag der Inhalt offen vor den Blicken der jungen
Dame — lauter engbeſchriebene Blätter voll von Zahlen
und Exempeln und allerlei Namen, kurz die Notizen eines
Geſchaͤftsmannes. Schon wollte Valeska, etwas ent-
täuſcht, das Buch aus der Hand legen, als ſie in einer
nochmals verſchloſſenen Taſche eine blaue Schleife fand,
welche ihr nur allzubekannt entgegenſchimmerte.
Sie ſelbſt hatte dies Band in der letzten Zeit ge-
tragen und dann vermißt, ohne begreifen zu können, wo-
hin es gerathen ſei. Nun ſah ſie es wieder, ſorglich
eingeſchlagen und verſteckt. — AÄdolph mußte es gefunden
haben und wollte ſich dies Andenken um jeden Preis-
erhalten.
Sie wußte es, daß er ſie liebte, dennoch aber em-
pfand ſie neues Entzücken, als ihr dieſer unbedeutende
Beweis in die Hand fiel, dennoch war ſie vor innerer
Bewegung kaum im Stande, zu athmen, als ſie jetzt
Schriftzüge ſah — ihren eigenen Namen und den des
Geliebten, zuweilen eng verſchlungen, zuweilen unter-
einander, nach Art der Verlobungsanzeigen, und dann
wieder zuſammen vereint in einem Herzen, der beflügelte
Amorspfeil Beide durchdringend.
Und was ſtand da unter dieſer kleinen Zeichnung?

grenzenloſer Trauer —
 
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