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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 9 - No. 16 (2. Februar - 26. Februar)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M13.

Mittwoch, den 16. Februar

1876.

Drei Weihnachten.
Erzählung von Ern ſt Wichert.
(Fortſetzung.)

Wieder gings behutſam über das Feld bis zu einer
aus gefrorner Erde und Mauerſteinen aufgeworfenen
wallartigen Erhöhung, hinter der die feindlichen Vorpoſten
Deckung geſucht hatten, und die er erſt bemerkte, als er
darüber ſtolperte. Einer dahinter richtete ſich auf und
ſetzte ihm den Lauf eines Gewehres auf die Bruſt.
„St! keinen Lärm gemacht,“ bedeutete Arnold den eifrigen
Poſten im beſten Franzöſiſch, „ich komme von Gambetta
und bringe Nachrichten über die Rüſtungen der Erſatz-
armee. Laßt mich hindurch, die Preußen habe ich über-
liſtet.“ Das leuchtete dem braven Soldaten ein. „Iſt
noch Hoffnung ?“ fragte er. „O, die beſte! In vier-
zehn Tagen könnt ihr die Luft frei haben,“ verſicherte
Arnold und eilte fort. „Es iſt auch Zeit,“ brummte
der Poſten, „daß Frankreich für Paris etwas thut;
unſere Lage wird unerträglich.“ Arnold hörte ihn nicht
mehr. — ö ö
Es hatte nun für ihn keine beſondere Schwierigkeit
mehr in die Stadt zu gelangen. Die Franzoſen, denen
er begegnete und die er zuerſt anſprach, hielten ihn für
einen Landsmann und erkundigten ſich nicht einmal nach
ſeinen Abſichten; die Sicherheit, mit der er den Weg
fand, ließ bei ihnen keinen Zweifel aufkommen. Nach
einigen Stunden näherte er ſich der Straße, in der er
ſeine Wohnung gehabt hatte.
Der Laden Madelaine's auf der Ecke nach dem
Boulevard war geſchloſſen. Das Putzgeſchäft mußte in
o trüber Zeit aufgegeben ſein, wo Luxusartikel keine
Abnehmer fanden. Auch an andern Schaufenſtern in der
Nachbarſchaft waren die Jalouſien nicht aufgezogen, ob-
gleich die zehnte Stunde vorüber war. Wie werde ich
ne jetzt finden? dachte Arnold bei ſich und beugte den
Kopf tiefer. Zum erſten Male an dieſem Tage beſchwerte
ſich ſeine Phantaſie mit düſteren Vorſtellungen über das
Wiederſehen. Er fühlte ſich erſchöpft von dem langen
Narſche, zu dem er ſich nicht einmal durch ein Frühſtück
gerüſtet hatte. Er trat in ein Reſtaurant ein und for-
derte etwas zu eſſen. Es war dürftig und theuer genug,
was er erhielt; die Drangſale einer belagerten Stadt
machten ſich auch darin kenntlich.
Und nun ging er auf dem Trottoir vor dem Hauſe
auf und ab, in dem er ſeine Madelaine wußte, und
konnte ſich nicht ſogleich entſchließen einzutreten. Was
erwartete ihn da oben? Eine Frau, die ihn ſchnell ver-
geſſen hatte und die er nur ſtörte, wenn er ſich ihr in
Erinnerung brachte? Oder eine Frau, die durch ihn
unglücklich geworden war und die ihm fluchte? Was
wollte er hier — was konnte er hier noch wollen? Und
doch zog es ihn wieder hin zu der Verlaſſenen, als ſei
ſie ihm nicht ganz verloren, als müſſe er ihr Rettung
bringen — wenigſtens ihre Verzeihung erbitten. Er
faßte alle ſeine Kraft zuſammen, trat in die Halle ein
und ſchlich die drei Treppen aufwärts. Es wäre für ihn

nicht ohne Gefahr geweſen, von einem der früheren Haus-
genoſſen erkannt zu werden. ö
An der Glasthür zum Entree zeigte ſich ein fremdes
Schild. Ein Arzt war eingezogen, der zu anderer Zeit
ſchwerlich ſeinen Kunden zugemuthet haben würde, ſo hoch
zu ſteigen. Arnold zog beſtürzt die Glocke und erkundigte
ſich nach der früheren Einwohnerin. Man brachte ihm
ihre Viſitenkarte, auf welche Straße und Nummer eines
anderen Quartiers geſchrieben war. Es lag ziemlich
weit enifernt in einer ſonſt nur von Arbeitern geſuchten
Stadtgegend. Arme Madelaine — was war aus dir
geworden.
Er ſtieg in einen Omnibus und ließ ſich eine Strecke
fahren. Dann ſetzte er ſeinen Weg zu Fuße fort durch
enge und ſchmutzige Gaſſen, bis er vor einem hohen ſich
kaſernenartig mit vielen Reihen kleiner und ſchmuckloſer
Fenſter präſentirenden Hauſe ſtehen blieb. Hier! Ein-
gang drei, vierte Etage rechts. Er langte außer Athem
oben an und faßte nach dem Glockenzuge. Aber die
Hand ſank ihm zurück: da war mit kleinen blanken
Stiften eine Viſitenkarte an die Thür geheftet und es
ſtand darauf mit deutlicher Schrift: „Pierre Leblanc,
Opticus.“ Seine Muskeln wurden ſchlaff, er wankte
zur Treppe zurück um zu fliehen, ſank aber auf der
oberſten Schwelle kraftlos zuſammen und umfaßte den
Ständer, ſich gegen den Schwindel zu behaupten, der
ſeine Augen verdunkelte.
So ſaß er wohl eine Viertelſtunde, erſt ganz be-

wußtlos, dann in dumpfem Brüten über ſein und Ma-

delaine's Geſchick; es war nicht die Frage, wer ſchuldiger
und wer unglücklicher ſei. Und warum ein Mehr oder
ein Minder? Wie gering fiel das ins Gewicht bei einer
ſolchen Laſt! Er raffte ſich auf. Was ſollte er thun?
Umkehren und wieder das Weite ſuchen? Nein! das
wäre eine Feigheit geweſen, mit der er ſich in dieſem
Augenblick nicht abfinden konnte, er empfand das Be-
dürfniß, gegen ſich ſelbſt grauſam zu ſein, die Wunde
ſeines Herzens weiter aufzureißen. Und was war denn
geſchehen? Nichts, was er nicht erwarten mußte. Aber
auch das Erwarten ſchlägt nieder, wenn es nur gewiß iſt.
Er zog die Glocke. Madelaine fragte von innen,
wer da ſei? Er wollte antworten, aber der Ton er-
ſtickte ihm in der Kehle. ö
Nun öffnete ſie. Aus dem Halbdunkel trat eine
Geſtalt, die ſein Innerſtes erbeben machte. Das war
Madelaine — aber wie verändert! Nicht mehr das
zierliche Geſchöpf, das nicht einmal der früheſten Morgen-
ſonne erlaubt hätte, ein unordentliches Negligs zu be-
lauſchen. Das Kleid ſchien nur ſo übergeworfen; nichts
Weißes umrandete den Hals und die Handgelenke; das
natürliche Haar fiel in aufgelöſten Locken über die Schul-
tern. Und das Geſicht —! Die Augen lagen tief und
ſchienen wie umſchleiert, die Augenbraunen ſenkten ſich
müde darüber, über die farbloſen Wangen hin und um
den Mund ging ein Zug von Schlaffheit und Abgeſpannt-
heit, der zeigte, wie gleichgültig ihr das Leben geworden
ſei, deſſen Reizmittel erſchöpft waren. Als ſie Arnold
erkannte, ſtutzte ſie einen Moment und hob den Kopf.
 
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