Heidelberger Familienblätter.
Beuetriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Samſtag, den 25. November
1876.
V 94. ‚
„Wo laſſen wir das Boot?“ — fragte zweifelnd
Baleska. der Andere. „Ich ginge ſonſt wahrhaftig ſehr gern mit
N S. v. d. orſt. hinein.“ .2.. ‚ ö
orene ven ö vor „Das könnt Ihr mir überlaſſen!“ rief Georg. „Ich
(Fortſetzung.) habe in Lübeck nichts zu ſuchen und verträume ſehr gern
„Nun, und was will er von dir?“ verſetzte ſpöttiſch
der Andere. „Dir nochmals erzählen, daß er ſich vom
Zimmergeſellen, durch eigenen Fleiß, durch Arbeit bei
Tag und Nacht, emporgeſchwungen hat zum Ingenieur
mit zweitauſend Thaler Gehalt, nicht wahr, und daß du
daſſelbe müßteſt, ſo lange feilen und hämmern, bis du
ein zweiter Borſig geworden — wundervolles Loos das,
bei ſtetem Schinden und Placken die Pfennige zuſammen-
klauben!“ — — —
„Nun — ich will es ja auch nicht!“ antwortete
der Andere. „Ich bin keine ſo kräftige Natur wie
Adolph; aber denken kann man doch allerlei Trauriges,
wenn der einzige Verwandte, welchen man beſitzt, einem
ſo nahe iſt!“
Der Ingenieur fühlte, wie ihm die Worte das Herz
zuſammenzogen und war auf dem Punkt, ſich durch einen
lauten Aufruf zu verrathen; da hörte er den, welchen
ſein Bruder Gottfried genannt, ſpöttiſch lachen.
„Na, Georg, dies iſt die letzte Sendung, dann haſt
du auch deine fünfzigtauſend Aechte in Sicherhett und
kannſt ein Philiſter werden,“ ſagte er, „jetzt raſch, ſucht
die Höhle, wo unſere Kerntruppen bivouakiren und legt
die Neugeworbenen hinzu, wir dürfen doch nicht wagen,
große Summen bei uns zu führen, und hierher verirrt
ſich keine Katze, um nach Schätzen zu graben. Dann
legt unter den verabredeten Buſch das, was er haben
ſoll, halb für ſich, halb zum Tauſchen; — von unſerem
Verſteck darf er nichts ahnen.“
Bei Leibe nicht,“ lachte der dritte. „Wir würden
keinen Heller wiederfinden.“
Waͤhrend dieſer Worte begaben ſich zwei der Männer
etwas weiter hinein in den loſen huͤgeligen Sand des
Ufers, ſo daß der Ingenieur dieſe beiden aus den Augen
verlor; er hörte nur, wie ſie emſig ſchaufelten und dann
das leiſe Klingen von ſilbernen Münzen. ö
„Vorſicht!“ mahnte vom Bote her mit halber Stimme
und einem unterdrückten Fluch der Zurückgebliebene. —
„Wollt Ihr nicht lieber Ball ſpielen mit den Dingern?“
Dieſer Zuruf ſchien die Anderen zu erſchrecken, denn
man hörte jetzt keinerlei Geräuſch mehr als nur dann
und wann das Kzirſchen des Sandes. Nachdem die
Grube wieder aufgefüllt, verwiſchten die beiden Männer
hinter ſich auf das Sorgfältigſte die Fußſpuren, legten
noch einen kleinen Beutel unter einen der dichtbelaubten
Büſche und wandten ſich dann dem Boote zu, auf deſſen
Brettern Gottfried ausgeſtreckt lag und den Rauch einer
Cigarre in die ſtille Nachtluft blies.
„Alles beſorgt?“ flüſterte dieſer. „Dann hätte ich
große Luſt, noch einen Abſtecher nach der Stadt zu machen
— meine Braut hat mich in acht Tagen nicht mehr ge-
ſehen. Wollt Ihr mit?2?⁊: ö
von welchem vor
einige Stunden in dieſer Zaubernacht!“ ö
„Ich auch!“ ſagte ſpöttiſch Gottfried, „aber
doch darauf an, wie und wo.“ ö
„Allein im Boot auf dem Waſſer — da danke ich.“
„Nun ſo geht nur; — es hat eben Jeder ſeine
Paſſionen für ſich!“ verſetzte Georg. „Nur müßt Ihr
vor Tagesanbruch wieder zurück ſein!“
„In zwei Stunden! — Aber wenn irgend Jemand
käme, ſo ruderſt du auf den Strom hinaus, Georg. —
Denke an das, was auf dem Spiele ſteht!“
„Geht nur — ich kann es ſelbſt nicht erwarten, erſt
in Amerika ein anderer Menſch werden zu dürfen. Wann
ſollen wir wohl ſo weit ſein, von hier fort zu können,
Gottfried?“ ö ö ö *
„Im October, November, denke ich. Jetzt adien,
bis auf Wiederſehen!“ ö
„Amüſirt Euch gut!“ ——
Die Anderen gingen mit ſchnellen Schritten auf das
eine halbe Stunde entfernt liegende Stadtthor zu, und
Georg blieb allein im Boot zurück. Dem Verſteckten
klopfte das Herz wie mit Hammerſchlägen, als er ſo die
Gelegenheit, den Langgeſuchten endlich ungeſtört ſprechen
zu können, vor ſich ſah.
„O möchte ich heute Abend den armen verirrten Kna-
es kommt
ben rühren können,“ dachte er, „möchte es mir gelingen,
ihn der verbrecheriſchen Genoſſenſchaft, in der er lebt, zu
entreißen. Mein Bruder, mein letzter Verwandter —
und, höchſt wahrſcheinlich ein Dieb! — O, Gott, gieb,
daß ich ihn überreden kann!“ 2 —
Er glitt unhörbar allmälig näher zur Stelle, an
der das Boot befeſtigt lag, jenem etwas erhöhten Punkt,
wenigen Abenden Valeska herab-
geſprungen in das Waſſer, und ſah nun aus nächſter
Nähe, kaum zwei Schritt von ihm entfernt, ſeinem Bru-
der in's Geſicht. Der vielleicht achtzehn oder zwanzig-
jährige Jüngling lag, gegen die Rückvand des Bootes
gelehnt, halb ſitzend auf den feuchten Brettern und ſtützte
den Kopf in die Hand. Sein bleiches, ſchmäler gewor-
denes Antlitz ſah viel älter aus, als es die Jahre er-
warten ließen und die tiefliegenden großen Augen blickten
trübe ſinnend zum ſternenhellen Abendhimmel empor.
Kein Laut ertönte ringsumher, ſelbſt die Nachtigall hatte
das Sprechen der Menſchenſtimmen verſcheucht, ſelbſt der
Wind ſchien ſchlafen gegangen und kaum merklich, wie
Mutterarme den Säugling wiegen, ſchaukelte leiſe das
Waſſer den leichten Kahn. —— ö
Ueber die Wangen des einſamen Knaben, den Welt
und Verſuchung umgarnt hatten, deſſen Seele mächlig
ringend das Joch abzuwerfen ſtrebte, welches allen freieren
Flügelſchlag, allen edleren Genuß in ſeinem Dunkel er-
ſtickte, über dieſe bleichen, noch ſo mädchenhaft gerundeten
Wangen rannen große Thränen, wie unbewußt, aus in-
nerſtem Herzen quellend, ohne daß Georg weinte.
Beuetriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Samſtag, den 25. November
1876.
V 94. ‚
„Wo laſſen wir das Boot?“ — fragte zweifelnd
Baleska. der Andere. „Ich ginge ſonſt wahrhaftig ſehr gern mit
N S. v. d. orſt. hinein.“ .2.. ‚ ö
orene ven ö vor „Das könnt Ihr mir überlaſſen!“ rief Georg. „Ich
(Fortſetzung.) habe in Lübeck nichts zu ſuchen und verträume ſehr gern
„Nun, und was will er von dir?“ verſetzte ſpöttiſch
der Andere. „Dir nochmals erzählen, daß er ſich vom
Zimmergeſellen, durch eigenen Fleiß, durch Arbeit bei
Tag und Nacht, emporgeſchwungen hat zum Ingenieur
mit zweitauſend Thaler Gehalt, nicht wahr, und daß du
daſſelbe müßteſt, ſo lange feilen und hämmern, bis du
ein zweiter Borſig geworden — wundervolles Loos das,
bei ſtetem Schinden und Placken die Pfennige zuſammen-
klauben!“ — — —
„Nun — ich will es ja auch nicht!“ antwortete
der Andere. „Ich bin keine ſo kräftige Natur wie
Adolph; aber denken kann man doch allerlei Trauriges,
wenn der einzige Verwandte, welchen man beſitzt, einem
ſo nahe iſt!“
Der Ingenieur fühlte, wie ihm die Worte das Herz
zuſammenzogen und war auf dem Punkt, ſich durch einen
lauten Aufruf zu verrathen; da hörte er den, welchen
ſein Bruder Gottfried genannt, ſpöttiſch lachen.
„Na, Georg, dies iſt die letzte Sendung, dann haſt
du auch deine fünfzigtauſend Aechte in Sicherhett und
kannſt ein Philiſter werden,“ ſagte er, „jetzt raſch, ſucht
die Höhle, wo unſere Kerntruppen bivouakiren und legt
die Neugeworbenen hinzu, wir dürfen doch nicht wagen,
große Summen bei uns zu führen, und hierher verirrt
ſich keine Katze, um nach Schätzen zu graben. Dann
legt unter den verabredeten Buſch das, was er haben
ſoll, halb für ſich, halb zum Tauſchen; — von unſerem
Verſteck darf er nichts ahnen.“
Bei Leibe nicht,“ lachte der dritte. „Wir würden
keinen Heller wiederfinden.“
Waͤhrend dieſer Worte begaben ſich zwei der Männer
etwas weiter hinein in den loſen huͤgeligen Sand des
Ufers, ſo daß der Ingenieur dieſe beiden aus den Augen
verlor; er hörte nur, wie ſie emſig ſchaufelten und dann
das leiſe Klingen von ſilbernen Münzen. ö
„Vorſicht!“ mahnte vom Bote her mit halber Stimme
und einem unterdrückten Fluch der Zurückgebliebene. —
„Wollt Ihr nicht lieber Ball ſpielen mit den Dingern?“
Dieſer Zuruf ſchien die Anderen zu erſchrecken, denn
man hörte jetzt keinerlei Geräuſch mehr als nur dann
und wann das Kzirſchen des Sandes. Nachdem die
Grube wieder aufgefüllt, verwiſchten die beiden Männer
hinter ſich auf das Sorgfältigſte die Fußſpuren, legten
noch einen kleinen Beutel unter einen der dichtbelaubten
Büſche und wandten ſich dann dem Boote zu, auf deſſen
Brettern Gottfried ausgeſtreckt lag und den Rauch einer
Cigarre in die ſtille Nachtluft blies.
„Alles beſorgt?“ flüſterte dieſer. „Dann hätte ich
große Luſt, noch einen Abſtecher nach der Stadt zu machen
— meine Braut hat mich in acht Tagen nicht mehr ge-
ſehen. Wollt Ihr mit?2?⁊: ö
von welchem vor
einige Stunden in dieſer Zaubernacht!“ ö
„Ich auch!“ ſagte ſpöttiſch Gottfried, „aber
doch darauf an, wie und wo.“ ö
„Allein im Boot auf dem Waſſer — da danke ich.“
„Nun ſo geht nur; — es hat eben Jeder ſeine
Paſſionen für ſich!“ verſetzte Georg. „Nur müßt Ihr
vor Tagesanbruch wieder zurück ſein!“
„In zwei Stunden! — Aber wenn irgend Jemand
käme, ſo ruderſt du auf den Strom hinaus, Georg. —
Denke an das, was auf dem Spiele ſteht!“
„Geht nur — ich kann es ſelbſt nicht erwarten, erſt
in Amerika ein anderer Menſch werden zu dürfen. Wann
ſollen wir wohl ſo weit ſein, von hier fort zu können,
Gottfried?“ ö ö ö *
„Im October, November, denke ich. Jetzt adien,
bis auf Wiederſehen!“ ö
„Amüſirt Euch gut!“ ——
Die Anderen gingen mit ſchnellen Schritten auf das
eine halbe Stunde entfernt liegende Stadtthor zu, und
Georg blieb allein im Boot zurück. Dem Verſteckten
klopfte das Herz wie mit Hammerſchlägen, als er ſo die
Gelegenheit, den Langgeſuchten endlich ungeſtört ſprechen
zu können, vor ſich ſah.
„O möchte ich heute Abend den armen verirrten Kna-
es kommt
ben rühren können,“ dachte er, „möchte es mir gelingen,
ihn der verbrecheriſchen Genoſſenſchaft, in der er lebt, zu
entreißen. Mein Bruder, mein letzter Verwandter —
und, höchſt wahrſcheinlich ein Dieb! — O, Gott, gieb,
daß ich ihn überreden kann!“ 2 —
Er glitt unhörbar allmälig näher zur Stelle, an
der das Boot befeſtigt lag, jenem etwas erhöhten Punkt,
wenigen Abenden Valeska herab-
geſprungen in das Waſſer, und ſah nun aus nächſter
Nähe, kaum zwei Schritt von ihm entfernt, ſeinem Bru-
der in's Geſicht. Der vielleicht achtzehn oder zwanzig-
jährige Jüngling lag, gegen die Rückvand des Bootes
gelehnt, halb ſitzend auf den feuchten Brettern und ſtützte
den Kopf in die Hand. Sein bleiches, ſchmäler gewor-
denes Antlitz ſah viel älter aus, als es die Jahre er-
warten ließen und die tiefliegenden großen Augen blickten
trübe ſinnend zum ſternenhellen Abendhimmel empor.
Kein Laut ertönte ringsumher, ſelbſt die Nachtigall hatte
das Sprechen der Menſchenſtimmen verſcheucht, ſelbſt der
Wind ſchien ſchlafen gegangen und kaum merklich, wie
Mutterarme den Säugling wiegen, ſchaukelte leiſe das
Waſſer den leichten Kahn. —— ö
Ueber die Wangen des einſamen Knaben, den Welt
und Verſuchung umgarnt hatten, deſſen Seele mächlig
ringend das Joch abzuwerfen ſtrebte, welches allen freieren
Flügelſchlag, allen edleren Genuß in ſeinem Dunkel er-
ſtickte, über dieſe bleichen, noch ſo mädchenhaft gerundeten
Wangen rannen große Thränen, wie unbewußt, aus in-
nerſtem Herzen quellend, ohne daß Georg weinte.