Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1876

DOI chapter:
No. 61 - No. 69 (2. August - 30. August)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43705#0277

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 68.

Saniſtag, den 26. Auguſt

1876.

Verborgent Aualen.
Novelle von F. L. Reimar.
(Fortſetzung.) ö

Stern ſprach noch einige Worte mit dem Stallknecht,
der das Pferd bis dahin gehalten hatte, rückte dann noch
etwas an dem Riemenzeug der Atalante und gab ihr
dann die Sporen.
Hedwig war jeder ſeiner Bewegungen athemlos ge⸗-
folgt: jetzt ritt er hinweg und jetzt — ſie kam zu ſich
Nein, nein, es war wie ein Mord, wenn ſie ihn
nicht zurückrief, ihn nicht warnte! Sie wußte es, die
Atalante würde oben auf dem Sonnenſtein ſich noch ein-
mal emporbäumen und den ahnungsloſen Reiter in die
Tiefe ſchleudern — mit geſpenſtiſcher Klarheit ſtand der
Moment vor ihr! ö ö
Sie beugte ſich vor, ſie öffnete den Mund, den
noch konnte ihn der Laut deſſelben erreichen, da ſah ſie,
wie er ſich im Sattel emporhob, ſich umwandte und mit
dem Hut in der geſchwungenen Rechten ſeine Grüße
hinüberwinkte und von drüben ſah ſie, als ihre Augen
blitzſchnell der Richtung folgten, ein weißes Tuch aus
Thekla's geöffnetem Fenſter flatteernn.
Ein Krampf verſchloß ihr den Mund, der Ruf, di
Warnung kam nicht über ihre Lippen. ö
Und dann kam eine Zeit, in der es todtenſtill in
ihr ward. Wohl eine Stunde lag ſie in ihrem Seſſel
und blickte mit großen, ſtarren Augen vor ſich hin; —
nichts an ihr und nichts in ihr regte ſich und ſie würde
es vielleicht nicht bemerkt haben, wenn Alles um ſie her
zuſammengebrochen wäre. ö ö
Leiſe und allmälig erſt kehrte Leben in ihre Pulſe

zurück und nun regte ſich auch das Fieber wieder, das
„Ob er nun oben ſein mag, ob
es ſchon geſchehen iſt?“ fragte ſie ſich, und wenn ſie
dann ſchaudernd zuſammenzuckte, ſo ſuchte ſie ſich den
Troſt einzureden, daß er auch dem Verhängniß entgehen, allein bin ich vielleicht nicht ſtark genug, Ihr müßt helfen,
ihn zu retten! Wenn wir durch den Wald eilen, ſchnei-
den wir ihm den Weg ab.“

Fieber der Erwartung.

die Atalaute ihn ſicher durch die Gefahr tragen könne.
— Zugleich aber ſtieg wieder die Erinnerung an die

Eigenart des Thieres in ihr auf und ſchuf auf's Neue
jene entſetzliche Vorſtellung. ö

zu übertäuben mit der Antwort, daß es das Schickſal

ſelbſt ſei, was dies Gottesgericht für Guſtav Stern ge-

ſchaffen habe.
Sie konnte die Angſt, das Alleinſein endlich nich
mehr ertragen und ging hinunter, um unter Menſchen
zu ſein, mit Menſchen zu reden.
Sie erfuhr, daß Thekla auf ihrem Zimmer ſei, um

— die Frau, welche Guſtav liebte,
Augenblick auch nicht ſehen können.

Schwankend noch, wohin ſie gehen ſollte, verließ ſie
das Haus und trat in's Freie geden ſente

hätte ſie in dieſem

Auf dem Hofe begegnete ihr der alte Gärtner, der

von der Dorfſeite zu kommen und eilig in die Wohnung

„Du haſt ihn in ſein Verderben geſchickt!“ den Ruf
glaubte ſie in ihren Ohren zu hören und ſuchte ihn doch

t

treten zu wollen ſchien, als er Hedwig aber erkannte,
ſtehen blieb und die Mütze zog.
„Haben das Fräulein ſchon gehört, daß es ein Un-
glück gegeben hat?“ fragte er.
„Ein Unglück?!“ rief, ſchrie Hedwig faſt auf, und
ihre Hand griff krampfhaft nach dem Herzen, „was iſt
geſchehen — wer iſt umgekommen?“
„Nun, nun,“ meinte der Mann begütigend, „ſo
ſchlimm iſt's nicht geworden, hätt's aber wohl vielleicht
werden können! der Kathner Meier, der dort im letzten
Hauſe wohnt, iſt vorhin aus der Bodenluke geſtürzt und
hat anfangs wie todt dagelegen. Zum Glück iſt aber
gerade der Herr Doctor vorbeigekommen, als ſie Alle im
Hauſe nach Hülfe ſchrieen und Niemand wußte, was er
thun ſollte. Der iſt dann ſchnell vom Pferde geſtiegen,
hat geſagt, wie alles ſein müſſe und auch ſelbſt dem
Meier zur Ader gelaſſen, der auch bald wieder zur Be-
finnung gekommen iſt und nun, wie der Doctor meint,
wohl das Leben behalten wird.“
„Aber er ſelbſt, der Doctor!“ ſtieß Hedwig hervor.
„Ja der iſt nun gerade ſo eben erſt wieder weiter
geritten,“ berichtete der Mann weiter; „ich habe ihm ſelbſt
noch beim Aufſteigen geholfen, denn ich war ſelbſt nach

„Meiers Haus, gegangen, als ich hörte, was es dort ge-

geben habe.“ ö
„Hedwig ließ ihn nicht ausreden.
5So iſt er noch nicht weit auf ſeinem Wege —
wir können ihn noch einholen?“ dieſe Worte kamen wie
geflügelt aus ihrem Munde.

„Ja, aber Fräͤulein, wozu?“ fragte der Gaͤrtner

Hverwundert.

„Es gilt ſein Leben! Er reitet die Atalante nach
dem Sonnenſtein — er wird ſtürzen!!“
Der Mann ſtarrte ſie mit offenem Munde an: er
mochte glauben, Hedwig ſei mit einemmale von Sinnen
gekommen. ö
Sie faßte ihn an der Schulter: „Kommt mit, Jakob,

„Wenn ich nur verſtände — —“ begann Jakob.
Sie ließ ihn nicht ausreden.
„Später, ſpäter — ich erkläre Euch Alles! kommt
nur jetzt um Gotteswillen, wir haben keine Minute zu
verlieren!“
Sie riß den Mann mit ſich fort und er wagte
keinen Widerſtand; war ihm auch immer noch nicht klar,
was Hedwig wollte: ſo viel begriff er doch, daß nicht

der Wahnſinn aus ihr geredet hatte, ſondern daß es ſich

um irgend eine Gefahr handelte, vor der ſie den Doctor

bewahren wollte und daß er ihr dabei helfen ſollte.
Briefe zu ſchreiben, und befohlen habe, ſie nicht zu ſtören

Sie flog faſt vor ihm her dem Walde zu, er hatte
alle ſeine Kräfte nöthig, um ihr nur ſo nahe zu bleiben,
daß er ſie nicht aus den Augen verlor, als ſie die Pfade
einſchlug, die durch das Dickicht führten, manchmal leitete
ihn nur der Schimmer ihres hellen Gewandes, oder wohl
auch das knackende Geräuſch der Zweige, durch welche ſie
ſich den kürzeſten Weg bahnte. War er ihr bisweilen
 
Annotationen