Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1876

DOI Kapitel:
No. 61 - No. 69 (2. August - 30. August)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43705#0281

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Heidelberger Zamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

NM 69.

Mittwoch, den 30. Auguſt

1876.

Berborgene Aualen.

Novelle von F. L. Reimar.
(Fortſetzung.)

Jakob erhielt den Auftrag, das Pferd zu überneh-
men und, da er das Haus früher erreichen mußte, hier
das Vorgefallene behurſam zu melden und auf die An-
kunft der beiden Wandernden vorzubereiten.
Die Anordnung war jedenfalls eine richtige, denn
es wurde durch ſie der Aufregung, die in dem Guts-
hauſe über Hedwigs Verſchwinden herrſchte, ſoviel früher
ein Ende gemacht, und wenn Thekla ſich auch anfangs
über Jakobs Erzählung entſetzte, ſo durfte ſie ſich doch
durch ſeinen weiteren Bericht, daß Alles gut abgelaufen
ſei, bis auf das kleine „Malheur“, welches dem Fräulein
widerfahren wäre, bei dem aber der Herr Doctor gar
keine Gefahr ſähe, ſo ziemlich beruhigt halten. Ja, ſie
war durch ihren Gewährsmann in den Stand geſetzt, ſich
das Vorgefallene ihrer Meinung nach vollkommen ſicher

zu deuten, die einzelnen Thatſachen in raſcher Combination blicke deobachtet, ſo würden ſie einen gewiſſen Wechſel in
an einander zu reihen, und ihre Bewegung war groß,

als ſie nach einer Weile die Freundin in ihre Arme

ſchloß, um ihr unter Freudenthränen ins Ohr zu flüſtern,
daß ſie die Retterin ihres höchſten Glückes in ihr ſähe.
Hedwig jedoch wehrte ihren Liebkoſungen und bat
nur mit matter Stimme, daß man ihr Alleinſein und
Ruhe gönnen möge, und Stern, der noch einmal ihre
Verletzung geprüft hatte, unterſtützte ihren Wunſch mit
ſeinem ärztlichen Gutachten, ſo entſchieden er auch die
Ungefährlichkeit der Wunde betonte; ſo überließ man ſie
der Einſamkeit ihres Zimmers. ö
In dem kurzen Beiſammenſein, welches Stern und
Thekla dann noch zu Theil ward, klärte die letztere ihren
Freund auch über Hedwigs rettendes, aber ſeltſames Er-
ſcheinen im Moment der Gefahr auf. So dunkel die
Worte gelautet hatten, die ſie zu Jakob geſprochen, als
ſie ihn mit ſich fort in den Wald riß, ſo löſten ſie jetzt
doch das Räthſel auf die einfachſte Weiſe: wahrſcheinlich
war ſie am Nachmittage auf ihrem Ritte während des
Gewitters auf dem Sonnenſtein geweſen und hatte dort
die vom Blitz angerichteten Verwüſtungen, wenn auch
nicht im Moment erlebt, ſo doch nachher geſehen. Als
ſie ſpäter erfuhr, Stern habe zur Nachtzeit jenen Weg
eingeſchlagen, war ihr die Gefaͤhrlichkeit deſſelben plötzlich
klar vor die Seele getreten; ſie hatte auch vielleicht vor-
ausgeſehen, daß die Atalante ſcheuen könne — kurz, bei
Hedwigs thatkräftigem, entſchloſſenen Charakter war ihr
Handeln im Grunde durchaus natürlich, und es blieb
Allen, die ihr für daſſelbe zu danken hatten, nur übrig,
ſie dafür zu bewundern ihr Leben lang.

Aber, ach, an Hedwig ging jede Aeußerung von

Dank und Bewunderung verloren! Sie ſtand am an-
deren Morgen von ihrem Lager auf, ging umher, ant-
wortete gleichgültig, wenn man Gleichgültiges mit ihr
ſprach, war aber ſonſt wie verwandelt. Hätte ſie nicht

eine gewiſſe Angſt gezeigt, wenn der geſtrigen Vorgänge

nur die geringſte Erwähnung gethan ward — man hätte
ſie für ſtumpfſinnig halten können.
Auch Stern, der, wie er verſprochen hatte, kam, um
nach ihr zu ſehen, fand ſie in dieſer Lethargie und ſie
machte ihn ſtutzig, weil er bei Hedwigs kräftiger Natur
nicht erwartet hatte, daß ihre Nervenreizung eine ſo tiefe
und andauernde ſein werde. Jedoch ſuchte er Thekla zu
beruhigen und ſprach die Meinung aus, daß der Nebel,
welcher ſich ſo unvermuthet auf Hedwig herabgeſenkt habe,
ſich auch eben ſo plötzlich wieder verziehen könne. Er
fügte hinzu, daß er in dieſem Fall, obgleich Vorgänge
des Seelenlebens überhaupt ſich leicht dem ärztlichen
Blick entzögen, ganz andere Zuverſicht hegen dürfe, als
bei dem armen Silkenitz, deſſen Natur in ihrer Wurzel
kranke.
Wie Stern jetzt ſeine Sorgen um den Freund
äußerte, und wie es ſchon ausgeſprochen war, daß er
ſeinetwegen raſch nach H. zurückkehren müßte, ſo war
ſchon früher in Hedwigs Gegenwart von Silkenitz' ver-
ſchlimmertem Zuſtande die Rede geweſen, und hätte der
Doctor oder Thekla die letztere gerade in dem Augen-

ihren Zügen wahrgenommen haben, der auf etwas wie
Erregung oder Theilnahme hindeutete; doch hatte der
frühere todte Ausdruck gleich wieder Platz gegriffen und
der Mund ſich auch zu keiner Frage oder Bemerkung
geöffnet. ö ö
Weder am heutigen, noch am folgenden Tage änderte

ſich in Hedwigs Zuſtand das Geringſte, bis am Abend

des letzteren Herr von Fergent wieder eintraf. Da —
in dem Augenblick, als der jungen Frau, auf deren Brief
er ſeine Heimkehr wahrſcheinlich beſchleunigt hatte, ſeine
Ankunft gemeldet ward, und dieſe hinaus eilte, um ihn
zu empfangen, rötheten ſich die bleichen Wangen der
Kranken, ihre Bruſt hob ſich mit tiefen, aber erleichtern-
den Athemzügen, und wie ihre Augen aufs neue Leben
gewannen, wich der apathiſche Ausdruck ihrer Züge. Sie
bat, Herrn von Fergent, ſobald er ſich von der Reiſe er-
holt habe, ſprechen zu dürfen. ö
Natürlich hatte er keinen größeren Eifer, als ihrem
Wunſch nachzukommen und ſo trat er ſchon wenige Mi-
nuten nach ſeiner Rückkehr, nachdem Thekla ihm nur
erſt wenige Einzelheiten über das Geſchehene mitgetheilt
und ihn dann noch raſch von Hedwigs gegenwärtigem
räthſelhaften Zuſtande unterrichtet hatte, zu der letzteren
ins Zimmer.
Sie kam ihm lebhaft entgegen und ſtreckte mit einer
gewiſſen freudigen Haſt beide Hände nach ihm aus. Er
ergriff dieſelben und behielt ſie in den ſeinigen, auch als
ſie nach einem kurzen Augenblick, wie in über ſie herein-
brechender Scham, ſich ſcheu von ihm zurückziehen wollte.
„Ich danke Ihnen, daß ſie mich rufen ließen,“ ſagte
er freundlich. „Es zeigt mir, daß meine Hoffnung, Sie
würden mich ſtets als Ihren Freund anſehen, keine
eitle war.“
Ihre großen Augen blickten ihn angſtvoll an und
der hülfeflehende Ausdruck, der in ihnen lag, erſchütterte ihn.
 
Annotationen