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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 87 - No. 95 (1. November - 29. November)
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elberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Beidelberzer Zeitung.

XS8.

Samſtag, den 4 November

1876.

Bal eska.
Novelle von S. v. d. Horſt.

(Fortſetzung.)

Er hatte mit wahrhafter Virtuoſität geſtern verſtan-
den, dem neuen Miether die erſte Monatsrate ſofort ab-
zuſchwatzen — ſie ſah mit heißer Beſchämung auf den
Thaler, den er ihr hingelegt.
„Es iſt unmöglich, ganz unmöglich!“ flüſterte Va-
leska. „Ich will meinen Entſchluß ausführen, nachdem
ich Alles gethan, was ſich thun ließ, um das beſchworne
Gelübde treu zu halten — er ſelbſt gibt mich frei!“
Nun begann bei herabgelaſſenen Vorhängen ein trau-
riges Schauſpiel. Valeska öffnete alle ihre Schubfächer
und Kaſten; ſie wühlte in Briefen und vertrockneten
Blumen, ſie verſenkte ſich noch einmal, zum letzten Mal,
in die Vergangenheit eines kurzen Jugendglückes und
ſeiner, bis in das graue todte Heute hinüberklingenden
Erinnerungen — ſie nahm mit feſter Hand alle dieſe
welken Blüthen, dieſe engbeſchriebenen Bogen und ver-
brannte ſie zu Aſche, ohne ein Auge von den ſpielenden
Flammen zu verwenden: erſt als nur die leichte fliegende
Aſche übrig geblieben von dem, deſſen geiſtiger Gehalt
längſt als troſtloſe Täuſchung erkannt worden, zog ſie

das innerſte nochmals verſchloſſene Fach des Schreibtiſches

heraus und ſtellte vor ſich auf die Platte ein kleines
Käſtchen. Das bleiche Geſicht der Unglücklichen wurde
noch bleicher und die Thränen kehrten doppelt heiß zurück,
als ihre zitternden Hände den Deckel öffneten. Kinder-
ſpielzeug zeigte ſich den Blicken der ſchluchzenden Frau.
Eine goldene Locke lag in weißem Papier — kleine
Stiefelchen und eine Kinderklapper, ein bunter Ball, ein
Zahnring, ein hölzerner oben am Kopfe von kleinen
Zähnchen zernagter Kegel —
Die arme Mutter drückte ihre brennende Stirn an
alle dieſe Gegenſtände, ſie küßte jedes einzelne Stück, ſie
preßte es krampfhaft an ſich, ehe auch dieſe Erinnerungen
der reinſten, Gott verwandteſten Liebe von der Flamme
verzehrt wurden, dann kam ein Schubfach voll kleiner
Garderobeſtücke, voll all den zierlichen Kleidern, welche
ihr heimgegangener Liebling getragen. — — Niemand
ſollte beſitzen, ja auch nur berühren dürfen, was wie ein

Heiligthum bisher von der unglücklichen Frau verwahrt

worden; ſie fachte das Feuer im Ofen zu heller Gluth
und verbrannte eins nach dem anderen, den ganzen In-
halt des Schubfaches. ö
Durch die Fenſterblenden drang der helle fröhliche
Sonnenſchein und küßte das gramvolle Antlitz der jungen
reizenden Frau, die ohne einen Gedanken, faſt ganz er-
drückt von der Bürde ihres Unglücks, ſtumm in die lo-
dernden Flammen ſah.
„Mein Liebling, mein Kind — mein Kind!“ —
das war alles, was ſie denken, alles was ſie fühlen und
immer wieder leiſe flüſtern konnte.
— „Hätte ich dich behalten, mein theuerſtes Gut, ſo
wäre ich reich geweſen in allem Mißgeſchick! —“

„Aber noch wenige Stunden, dann iſt's ertragen!
— Am Grabe der Liebe wächſt Blümlein der Ruh. —
Ja, am Grabe, am Grabe, o ich preiſe dich, Schickſal,
daß du die Thür zum Grabe unverſchloſſen ließeſt, daß
es mir vergönnt iſt, ſie zu öffnen und da Schutz zu
ſuchen, wohin mir die Schande und der Gram nicht fol-
gen können!“
„Nun noch meine Familie, damit Alles bedacht ſei,

damit Nichts in fremde Hände komme — dann mögen

die Pfandboten nehmen, was noch übrig bleibt — dann
mögen ſie Holz und Stein auf den Markt bringen —
meine Schätze ſind in Sicherheit!“
Sie ergriff ein geſticktes Taſchenbuch und wieder
ſielen vergilbte Briefe heraus; die Photographieen ihrer
Eltern, ihrer jüngeren Geſchwiſter; Valeska küßte ſie
alle, ehe auch um dieſe theuren Andenken aus der fernen

Heimath die rothen begierigen Feuergarben zuſammen-

ſchlugen — kniſternd erloſch der letzte Funke, dann erhob
ſich die bleiche Frau und zog das Rouleau des einen
Fenſters hinauf. Sie ſetzte ſich jetzt, innerlich fröſtelnd,
an den Schreibtiſch und ſchrieb einen letzten Abſchieds-
gruß an die alte Mutter daheim in Polen; ſie ſagte ihr
Alles, was ſonſt aus zwiefacher Schonung nie dem
Papier anvertraut worden, ſie ſchüttelte das übervolle
Herz noch einmal aus, ehe es ſtill ſtehen ſollte für
immer. — ö
Stunden vergingen, der Tag ſchritt weiter vor; die
Magd ſervirte das dürftige unbezahlte Mittagsmahl und
trug es, wie ſie es hereingebracht, auch wieder hinaus.
— Valeska ſaß am Fenſter und ſah auf den blauen
blitzenden Waſſerſtreifen da draußen vor der Stadt, ſah
auf den ſinkenden Sonnenball und die länger werdenden
Schatten. — — ö
Fünf Schläge durchzitterten vom nahen Thurme die
klare Frühlingsluft und unwillkürlich erſchrack die ſinnende
Frau. Gerade um dieſelbe Stunde ſprach ſie vor vier
Jahren das Ja, welches ihn und ſie aneinanderknüpfte,
ihn, der ihr jetzt ſo ſchrecklich gleichgültig war und deſſen
Autlitz ſie nie wieder ſehen wollte. — — ö
Wie hatte ſie ihn damals geliebt, wie glaubte ſie
alles Erdenglück in ſeinem Beſitze ihr eigen nennen zu
können. — —
Nach der Trauung ein Souper in dem Hauſe ihrer
Eltern und um zehn Uhr trug ein Reiſewagen ſie und
ihn in die Weite, der Freiheit, dem wonnigen einander
ganz und ungetheilt Angehören entgegen — auch heute
wollte ſie eine Reiſe antreten um die gleiche Stunde,
eine dunkle bedeutungsvolle Pforte ſchließen zwiſchen ſich
und ihm. — ö
Immer tiefer ſank die glaͤnzende Sonnenkugel; un-
ten auf der Straße lagerte ſich das erſte Grau des
dämmernden Abends, da kamen ſchwere Schritte die
Treppe langſam herauf.
Valeska lauſchte mit ſtockendem Herzſchlag, — das
war ihr Mann, ſie kannte nur zu wohl ſein unſicheres

Tappen, ſie wußte, daß er um dieſe Zeit nur nach Hauſe

kam, wenn er bereits allzu betrunken war, um länger
auf den Straßen bleiben zu können. ö
 
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