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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 9 - No. 16 (2. Februar - 26. Februar)
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gamilienblätter.

Beletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

W IA.

Samſtag, den 19. Februar

1876.

Drei Weihnachten.
Erzählung von Ernſt Wichert.
(Schluß.)
Paris zu verlaſſen, wurde Niemand gehindert.
Häufig genug wiederholte ſich der Verſuch, das Freie zu
gewinnen, aber die Wenigſten vermochten die Wachſamkeit
der deutſchen Poften zu täuſchen. Vor einigen Tagen
nur hatte ein wohlorganiſirter Ausfall einen großen Theil
der Belagerungstruppen in blutige Gefechte verwickelt;
heute Nachmittag nun ſchien auf gegenſeitige Verabredung
das Schießen eingeſtellt, aber aufmerkſam wurde jede
Bewegung im Schutz der mächtigen Forts beobachtet, um
gegen neue Ausbruchsverſuche auf der Hut zu ſein. An
ein Durchſchleichen war um ſo weniger zu denken, als
der Nebel ſich im Lauf des Tages zerſtreut hatte und
an dem dunkelblauen klaren Himmel ein Stern nach dem
andern aufleuchtete. Auf dem freien Felde konnte man
mehrere hundert Schritte weit jeden ſich fortbewegenden
Gegenſtand deutlich erkennen. Als das Paar ſich den
franzöſiſchen Vorpoſten näherte und nun die Chauſſee
verlaſſen werden mußte, erklärte Madelaine, vor Müdig-
keit nicht weiter zu können. Sie ſetzten ſich auf die
Grundſteine einer umgeſtürzten Gartenmauer und ruh-
ten aus.
Bald aber erhob ſich die Frau wieder, an allen
Gliedern vor Froſt zitternd und verlangte, weiter zu
gehen. Er umfaßte ſie und hob ſie mit ſtarkem Arm
über allerhand Hinderniſſe hinweg. Sie überließ ſich
ohne Einſpruch ſeiner Leitung. Nun ſah man die preu-
ßiſche Doppelpatrouille und Madelaine zitterte heftiger.
Arnold ging gerade auf ſie zu und erkundigte ſich nach
dem Wege. Es gab Fragen und Antworten hin und
her. Arnold zeigte ſeine Legitimationskarte. Wer aber
das Frauenzimmer ſei? Der vorſichtige Gefreite fand
ſeine Auskunft nicht befriedigend und forderte ihn auf,
nach der Baracke zu folgen. Damit erklärte er ſich
durchaus einverſtanden, und ſie gingen nun im Schutze
der Soldaten an allen Poſten vorüber. Vor der Ba-
racke ſtand die Wachtmannſchaft, in lange graue Mäntel
gehüllt, plaudernd, Tabak rauchend. Im Innern waren
einige der Leute damit beſchäftigt, den Fußboden zu rei-
nigen, Sand und Tannen auszuſtreuen. Auf dem kleinen
hölzernen Tiſch, der in die Mitte gerückt war, ſtand ein
grünes Bäumchen, und der wachthabende Offizier war
beſchäftigt, aus einer kleinen Kiſte Pfefferkuchen auszu-
packen und ſie an den Aeſten zu befeſtigen. Mehrere
Flaſchen Liqueur, Bündel Cigarren, Socken, Binden und
andere Gegenſtände lagen auf dem Tiſch oder waren
an den Baum gehängt. Der Offizier kannte Arnold und
reichte ihm die Hand. „Sehen Sie,“ rief er, „da hat
ſich auch etwas von Ihren Liebesgaben hierher verirrt,
und nun wollen wir einen ordentlichen Weihnachten
machen. Leider iſt der Wachsſtock vergeſſen und wir
dürften hier auf unſerm exponirten Poſten nicht einmal
freigebig damit umgehen. Aber wir haben einige Stümpf-
chen von unſern Wachslichtern aufbewahrt, und ganz

dunkel ſoll der Baum nicht bleiben. Ja, in der Heimath
iſt's beſſer. Aber wen, zum Tauſend, haben Sie ſich da
mitgebracht? Ein Pariſer Dämchen! Ei, ei!“
„Wenn ich Ihnen die Wahrheit ſagen wollte, wür-
den Sie mir nicht glauben,“ antwortete Arnold; „aber
auf mein Wort! es iſt keine Gefahr dabei. Laſſen Sie
uns weiter.“ In franzöſiſcher Sprache ſetzte er hinzu:
„Madelaine will einen deutſchen Weihnachten ſehen.“
„Ich ſehe ſchon etwas davon,“ ſagte ſie ſchüchtern.
„Wie haben Sie nur den Muth, hier gleichſam im An-
geſicht des Todes ein ſolches Bäumchen zu putzen? Und
die rauhen Soldaten, glauben Sie, werden ihre Freude
daran haben?“
„O! wenn Sie eine halbe Stunde warten woll-
ten —“ verſicherte der Offizier in ihrer Mutterſprache —
„ſie werden ſich freuen wie die Kinder. Am Weihnachts-
abend ſind wir alle rechte Kinder. Und nun hier in der
Fremde, in Noth und Gefahr —! Da denkt Jeder an
ſeine Heimath, und wie die zu Hauſe jetzt ebenſo ſehn-
ſuchtsvoll an ihn denken und für ihn beten — Vater
und Mutter, die treue Hausfrau oder Braut, auch wohl
ein liebes Kind, denn es ſind viele Familienväter unter
den Leuten. Und wenn die Bomben über uns hinweg-
ſauſten, das Feſt möchte Keiner ſich nehmen laſſen.“
Madelaine ſah zur Erde und ſchwieg. „Wir wollen
hier die Vorbereitungen nicht ſtören,“ ſagte Arnold, „folge
mir, du ſollſt noch mehr ſehen.“
Der Offizier gab ihnen eine Begleitung bis zu den
Batterien mit. Hinter den, Schanzwerken hatten ſie nichts
zu befürchten. Sie gelangten in ein parkartiges Wäld-
chen und gingen eine Strecke zwiſchen den entlaubten
Bäumen unter dem prächtigen Sternenhimmel hin. Ma-
delaine ſchloß ſich feſter an ſeinen Arm. Da hörten ſie
von fern Geſang herüberſchallen. Es war ein Kirchen-
lied, das von vielen Stimmen geſungen wurde und ſo
feierlich durch die ſtille Nacht klang. Arnold zog ſeine
Begleiterin raſcher fort. Auf einem von hohen und dich-
ten Hecken geſchützten freien Platze, in den Parkwege
mündeten, ſtand recht in der Mitte ein Tannenbaum.
Er war mit Lichtern beſteckt, und wenn der Luftzug eins
ausblies, wurde es ſofort wieder angezündet. Im Kreiſe
herum aber ſtanden Soldaten aller Waffengattungen und
ſangen ernſt und mit gefalteten Händen den Choral.
Plötzlich ſtieß der Wind aus einem Seitenwege auf den
Platz und löſchte alle die kleinen Kerzen aus; aber der
Geſang ging fort bis zum Schluß und dann entfernten
alle Umſtehenden ſich ſtill. Madelaine fühlte ſich ſo eigen
bewegt — ſie wußte ſelbſt nicht, was ihr die Thränen
in die Augen trieb. Arnold hörte ſie ganz leiſe ſchluch-
zen. „Friert dich, Madelaine?“ fragte er. Sie ant-
wortete nicht.
Er führte ſie weiter. Man gelangte zu einer Ort-
ſchaft, in der deutſche Truppen Quartier hatten. Faſt
in jedem der kleinen Landhäuſer waren einige Fenſter
hell. Sie ſchritten an denſelben vorüber und ſchauten
hinein. Da brannten kleine Tannenbäumchen, einige
hübſch mit Sternen und Flittern ausgeputzt. Auf Bänken,
Schemeln, Kiſten und Tonnen herum ſaßen Soldaten,
 
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