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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 61 - No. 69 (2. August - 30. August)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

V 66.

Samſtag, den 19. Auguſt

1876.

Verborgene Aualen.

Novelle von F. L. Reimar.
(Fortſetzung.)

Es war dies ein Punkt, der wegen ſeiner pittoresken
Schönheit in der Gegend eine gewiſſe Berühmtheit hatte
und deshalb auch von H. aus häufig beſucht wurde, wie
3. B. auch der Docior bisweilen über ihn nach Fergent
gekommen war, obgleich es noch einen kürzeren Weg nach
dem Gute gab, der direkt durch den Wald führte.
Auch Hedwig liebte den Ort und ihre Atalante
hatte ſie manchmal dahingetragen, indem ein zwar ſchmaler,
aber nicht unbequemer Reitpfad bis zur halben Höhe des
Berges hinaufführte. — Hier, wo der letztere ſehr ſchroff
abfiel, hatte man ein Holzgeländer errichtet, ſo daß auch
dieſe Stelle, obgleich der Weg hier ſehr eng war, voll-
kommen geſchützt genannt werden konnte. ö
Früher — hatte Herr von Fergent Hedwig einmal
erzählt — ſei der Abhang breiter geweſen, doch hätten
vor längeren Jahren Abbröckelungen des Erdreichs ſtatt-
gefunden, die dann auch den hier bis dahin befindlichen
Bäumen verderblich geworden wären, indem ſie einen
Theil derſelben mit ſich geriſſen hätten. Von den ſtehen
gebliebenen habe man ſpäter noch mehrere fällen müſſen,
weil ihr Widerſtand gegen Sturm und Wetter unſicher

geworden und es daher gefährlich erſchienen ſei, ſie an

ihrem Platz zu laſſen. „Nur dieſer eine“, hatte er hin-
zugefügt und dabei auf eine mächtige Eiche gedeutet, die
allerdings auch dem Abgrund nahe ſtand, ihre Wurzeln
aber, die Eiſenarmen gleich waren, feſt um das Geſtein
geſchlungen hatte, „trotzt wahrſcheinlich nach Jahrhunder-
ten, und ſie hat die Axt darum auch verſchonen dürfen.“
Und in der That, es war ein erfreulicher Umſtand,
daß der alte Baum ſeinen Platz hatte behaupten dürfen,
denn wie ſich jeder an ſeiner Schönheit erfreute, wie er
einen willkommenen Schutzort gewährte, von dem man
zugleich die Blicke ſeitwärts über die freie Gegend und
niederwärts über den grünen Grund ſchweifen laſſen
konnte, ſo gab die „Eiche auf dem Sonnenſtein“ für
eine beträchtliche Entfernung eine Art Wahrzeichen ab
und war gleicherweiſe ein Zielpunkt für die Blicke wie
für die Füße derer, die des Weges kamen.
Hedwig, die unter ſeinen Zweigen oft Raſt gehalten
hatte, dachte auch heute hier einige Minuten zu verweilen,
um, während ſie ihrem Thiere die kurze Ruhe gönnte,
ſelbſt einen etwas höher gelegenen Vorſprung des Berges
zu erklimmen, wo ſie den Himmel, an welchem ſich jetzt
die dunklen Wolken ſchwerer und ſchwerer herauſdräng-
ten, noch freier über ſich hatte.
Sie lenkte das Pferd zu dem Ende gegen den
großen unter der Eiche liegenden Stein, der ihr ſchon
zu ähnlichen Zwecken gedient hatte, ſchwang ſich mit ge-
wohnter Leichtigkeit auf denſelben hineb und war im
Begriff, den Zügel um das Holzgeländer zu ſchlingen,
als ſie durch das Hinzutreten eines Mannes äberraſcht
wurde, der von ihr unbemerkt an der entgegengeſetzten

Seite des Stammes geſtanden oder geſeſſen haben mußte,
und — dem erſten unwillkürlichen Zuſammenzucken über
„die unvermuthete Begegnung folgte ein tiefes Erſchrecken,
denn ſie hatte Silkenitz erkannt.
„Ich habe Recht behalten,“ ſagte er mit ganz ruhi-
gem Tone, „daß Sie einmal des Weges kommen mußten
— und darum habe ich Sie hier denn auch erwartet,
da ich Guſtav ja doch mein Wort gegeben hotte, daß ich
nicht nach Fergent kommen wollte.“
„Und weshalb ſuchten Sie mich?“ fragte Hedwig,
die ſich eines Zittern in Silkenitz' Nähe nicht erwehren
konnte, trotzdem ſeine Züge nur den Ausdruck einer
freundlichen, wenn auch ſchmerzlichen Sanftmuth trugen.
„Weshalb?“ gab er verwundert zurück, „mein Gott,
wie Sie fragen können, Hedwig.“ ö
„Ich wollte Sie noch einmal ſehen — War denn
das ſo ſeltſam? — Sehen Sie, es ſind ja Jahre, lange
Jahre her, ſeit wir beiſammen waren, und in der Zeit
wächſt die Sehnſucht.“
„Und iſt es denn nicht ganz natürlich“ — fuhr er
mit ſchmerzlichem Lächeln fort — „daß wir auf das
Liebſte, was wir haben, gern noch einen letzten Blick
wolh⸗ ehe es von einem Andern ſein genannt werden
ſoll? —
Mit der Angſt in Hedwig kämpfte jetzt die Rührung,
in der ſie ihre Blicke mitleidsvoll auf das bleiche Antlitz
des Mannes heftete, der ſie tiefer und heißer geliebt.
hatte, als je ein Menſch, zugleich aber begriff ſie, daß er
von irgend einem Irrthum befangen war, und da ſie
ihm ein ſonſt vollkommen klares Bewußtſein zuſchreiben
mußte, ſo drängten ſich ihr die Worte über die Lippen:
„Ich habe Ihnen gegenüber denſelben Kummer wie
einſt: ich bin machtlos, Sie zu tröſten — wenn es
nicht für den Einſamen ein Troſt iſt, daß auch ich ein-
ſam bin!“
Er lächelte. „Sagen Sie das nicht, Hedwig, ſuchen
Sie mich nicht zu täuſchen! Denn ich weiß es ja doch,
daß Sie eins ſind mit ihm, oder doch wieder eins wer-
den müſſen.“ ö
„Mit ihm? Von wem reden Sie?“ fragte ſie aus
einem Erſchrecken ihres Herzens heraus.
„Nun, mein Gott, kann denn noch von einem
Andern geſprochen werden, als von Guſtav, ron Guſtav
Stern?“
Sie wich heftig zurück und preßte die Hand gegen
die Stirn. ö
„Nicht von ihm, nicht von ihm — — er hat mich
nie geliebt!“
Er ſchüttelte den Kopf. „Wie doch die Glücklichen,
die Geſunden mit ſich und Anderen ſpielen können!“
ſagte er. „Muß ich es Ihnen erſt ſagen, daß er unter
Ihrer Härte leidet, daß es Ihnen gelungen iſt, ihn ſo
zu ſtrafen, daß er an Ihrer Vergebung zweifelt? Oder
meinen Sie etwa, ich wiſſe es nicht, wie einem Herzen
iſt, das liebt und ſich immer und immer zurückgewieſen
ſieht?“

„Silkenitz!“ ſtieß Hedwig hervor, der die Aufregung
faſt den Athem raubte.
 
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