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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 70 - No. 78 (2. September - 30. September)
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heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 71.

Mittwoch, den 6. September

1876.

Aus längſt verrauſchter Zeit.
Einer alten Sage nacherzählt von J. B. Jacobi.
Nachdruck verboten. Geſ. v 11. VI. 70.

Am nördlichen Ende des Goplo⸗Sees, im heutigen
Großherzogthum Poſen, liegt ein kleines, aus einigen
zwanzig elenden Hütten beſtehendes Oertchen. Einſt war
es eine große und volkreiche Stadt, die Reſidenz berühm-
ter Fürſten und ſpäterhin der Sitz der Biſchöfe von
Kujavien. Großartige Erinnerungen und wunderbare
Sagen knüpfen ſich an dieſen Ort, der vor einem Jahr-
tauſend dem in der Geſchichte Polens berühmten Fürſten-
geſchlecht der Piaſten das Daſein gab.
In den älteſten Zeiten waren die Länder an der
Weichſel unter dem Namen Sarmatien bekannt. Im
ſechſten Jahrhundert nach Chr. G. jedoch verließen, von
den Bulgaren und Walachen gedrängt, ſlaviſche Völker
ihre Wohnſitze an der Donau und zogen längs der Weichſel,
die erſten Einwohner theils vertreibend, theils auch unter-
jochend, gegen Norden hinauf. Ein Stamm dieſer Sla-
ven, der ſich im flachen Laude niederließ, erhielt hiervon
die Benennung Polen,“) und begründete ein Reich, das,
obwohl von eigenen Königen beherrſcht, doch bis zur
Zeit Kaiſer Friedrich II. von Deutſchland mehr oder we-
niger abhängig war.
Als erſter Woiewode oder Oberherr der Polen er-
ſcheint um das Jahr ſiebenhundert ein gewiſſer Krak;
von ihm ſoll Krakau, die älteſte Stadt in Polen, den
Namen erhalten haben.
Er hinterließ nur eine Tochter, Wanda, welche an
Geiſt und Körper ſo ausgezeichnet war, daß die Polen
ſie einſtimmig zu ihrer Beherrſcherin erwählten. Ein
Fürſt der angrenzenden Länder, Rittogar, dachte dieſen
Umſtand zur Eroberung Polens benutzen zu können und
überzog es deshalb mit Krieg. Wanda aber legte maͤnn-
liche Rüſtung an, ſtellte ſich an die Spitze der für ſie
begeiſterten Polen und ſchlug Rittogar dermaßen, daß er
aus Zorn, ſich von einem Weibe überwunden zu ſehen,
ſich ſelbſt das Leben nahm.
Was an dieſer Sage wahr ſein mag, läßt ſich nicht
ergründen, ſo viel iſt gewiß, daß dieſer Fürſten Andenken
noch heute im Munde des Volkes in einem ſie preiſenden
Liede fortlebt. Außerdem zeigt man ohnweit Krakaus am
linken Stromufer der Weichſel einen Hügel, den man
als Wanda's Graͤbſtätte bezeichnet.
Nach Wanda's Tode theilten viele Fürſten, die Le-
ſcheks und die Popiels, deren Urſprung ſich in das Un-
gewiſſe verliert, als Woiewoden Polen untereinander.

Lech, woraus Leſchek entſtanden iſt, bedeutet urſprüng-
lich im Slaviſchen, wie Tſchech und Bojar, den freien
Eigenthümer eines großen Landſtrichs. Lech hieß der
Sage nach der erſte polniſche Fürſt, in ſpäterer Zeit erſt
wurde daraus der hiervon abgeleitete Volksname.

*) Im Slaviſchen heißt Ebene oder flaches Land Pola. Aus
dem polniſchen Polani, Bewohner der Ebene, mag das deutſche
Polen entſtanden ſein.

Im ſechſten Jahrhundert ſoll der erſte Lech mit einem
großen Volkshaufen von Croatien her in Großpolen ein-
gedrungen ſein und in der Ebene von Gneſen, im Groß-
herzogthum Poſen, die erſte ſlaviſche Niederlaſſung ge-
gründet haben. Ein Neſt weißer Adler, das auf dem
Wipfel eines hohen Baumes ſich dort vorfand, gab dem
Orte die Benennung — „Gniazdo“, zu Deuiſch „Neſt“,
woraus ſich Gnierno, Gneſen, gebildet hat. Den weißen
Adler aber, den ſie auffliegen ſahen, wählten die Polen
fortan zu ihrem Wahrzeichen und Wappen. Erſt um die
Mitte des neunten Jahrhunderts nimmt die Geſchichte
feſtere Umriſſe an, und zwar beginnt ſie bei dem Städt-
chen Kruſchwiza am Goploſee, an deſſen Ufer ſich das
erſte grauenvolle Drama derſelben abſpielt.
Hier lebte in jener Zeit auf ſeinem Schloſſe Popiel
der Zweite, ein unwürdiger und grauſamer Mann. Die
zu gleicher Zeit die verſchiedenen Landestheile beherrſchen-
den vierundzwanzig Woiewoden waren ſämmtlich Oheime
und Vettern und ihm als unbequeme Aufſeher verhaßt.
Sie hatten ihn bereits oft ermahnt, von ſeinem
ſchlechten Lebenswandel abzulaſſen, und ihm, falls er ſich
nicht ändere, mit Abſetzung gedroht. Er dachte jedoch
nicht daran, dieſe Ermahnungen ſich zu Herzen zu neh-
men, er ſann vielmehr im Verein mit ſeiner boshaften
Gattin, wie er ſich räche an den Woiewoden und ſie
verderbe.
Mit dem herannahenden Feſte der Dsiedsila, der
Göttin des Lebens und dee Liebe, welche bei den Slaven

hoch in Ehren ſtand, glaubten ſie die Gelegenheit ge-

kommen. Popiel entſandte Boten an die Oheime und
Vettern und ließ ſie alle zum Gaſtmahl nach Burg
Kruſchwiza einladen. Er wolle, ſo verkündeten ſeine
Herolde den, ob ſeiner ungewöhnlichen Freundlichkeit er-
ſtaunten Woiewoden, das Feſt mit ihnen feierlich begehen
und dann nach ihrem Wunſche des Landes Wohlfahrt
berathen. ö
Alle hatten, nichts Böſes ahnend, die Einladung an-
genommen, und einer nach dem andern waren ſie mit
ihren Söhnen angelangt und in den Burghof eingeritten.
Doch ſchon der Empfang entſprach wenig der den vor-
nehmen Gäſten zukommenden Ehre, denn Niemand hatte
ſie am Thore oder in der Halle freundlich willkommen
geheißen, und unmuthigen Angeſichts ſchritten ſie, der
Ankunft des fürſtlichen Paares harrend, in dem aller-
dings wie zu einem Feſte hergerichteten Raume umher.
Der Schein zahlreicher Fackeln erhellte die geräumige
Halle, in deren Kamin gewaltige Holzſtämme flammten
und der Duft des Bernſteins und des Quendels erhob
ſich aus mächtigen Feuerbecken, Wohlgeruch verbreitend.
Lange Tafeln von Fichtenholz, beſetzt mit zahlreichen
Schüſſeln, ſtanden in der Mitte der Halle. Es prangten
auf dieſen, neben des Elenthieres feinſtem Ziemer, die
Bärenklaue und die Rehkeule, und des Ebers gewaltiger
Kopf erhob ſich zwiſchen allerlei wildem Geflügel. Fäſſer,
gefüllt mit Meth und gegornem Birkenſaft, lagerten längs
den Wänden auf hölzernen Geſtellen; auf den Schenk-
tiſchen aber ſtanden ſteinerne Krüge voll des Rebenſaftes
aus Griechenland und Pannonien und daneben als
 
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