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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 87 - No. 95 (1. November - 29. November)
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Heidelberger Zamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

X89. Mittwoch, den 8. November 1876.
He Der Fremde zog ihren Arm durch den ſeinigen und
ö Baleska. zwang ſie, einige Schritte zu machen.
Novelle von S. v. d. Horſt. „Ich habe nicht allein das Recht, ſondern die Pflicht
ſogar!“ antwortete er mit ernſtem Tone. „Sie ſollen
Cortſetzung.) mit mir nach Lübeck zurückgehen und mir verſprechen,

Zugleich fiel auch da ein ſchwerer Körper in das
Waſſer und emſig rudernde Arme brachten einen Schwim-
menden der Stelle näher, an welcher Valeska verſunken
war. Die Seide des Kleides, vom Winde gehoben, lag
einen Moment glatt auf den Wellen, daher kam es, daß
der Fremde Zeit behielt, die kleine Strecke zurückzulegen
und die junge Frau zu ergreiſen, ehe das Waſſer über
ihrem Kopfe zuſammenſchlagen konnte. Nicht ohne mehr-
malige Anſtrengungen gelang es ihm endlich, die Be-
wußtloſe auf das Ufer zu bringen.
Triefend am ganzen Körper ſchüttelte er ſich, daß
die Tropfen flogen, und drückte nach Möglichkeit das
Waſſer aus Valeska's Kleidern. Mit ihrem Schleier
trocknete er das ſchöne todtblaſſe Geſicht und ſeufzte un-
willkürlich. ö ö
„Armes Geſchöpf,“ murmelte er, „vielleicht war es
eine große Grauſamkeit, dies Rettungswerk; aber immer-
hin darf man doch keinen Menſchen ertrinken laſſen! Wie
fange ich es nur an, ſie zu wecken?“ ö
Er öffnete die zuſammengepreßte rechte Hand der
jungen Frau, um inwendig zu reiben, dabei ſah er den

Trauring am Mittelfinger derſelben und ſchüttelte ver-

wundert den Kopf. „Eine Frau!“ murmelle er, —
„das iſt ſeltſam, eine verheirathete Frau, ſo jung, ſo
ſchön — und Selbſtmörderin! —“
„Aber hier kann Zögerung den Tod bedeuten —
ſie muß erwachen!“ ö
Err brieb haſtig die Hand und die Stirn der Ohn-
mächtigen, vielleicht nicht ganz ſo behutſam, wie er es
wohl ſelbſt beabſichtigt hatte, denn ſie zuckte mit einem
ſchmerzlichen Wimmern zuſammen und ſchlug langſam
die Augen auf. Ihr Blick traf voll Angſt und jähem
Erſchrecken den jungen Mann.
„Gott! Gott! — Wer iſt da? Wo bin ich —
O, was that ich Ihnen, daß Sie mich verhinderten,
zu ſterben?“ rief ſie. ö ö
Der Fremde ergriff ohne Zeitverluſt das am Boden
liegende Tuch und hüllte die Widerſtandsloſe vollſtändig
ein, dann brachte er ihr den Hut. Erſt als ſo Alles
geſchehen war, was ſich im Moment thun ließ, ſah er
ſie feſt an und antwortete ihr: ö —
„„Ich habe Sie am Ertrinken verhindert, Madame,
weil es eine Ihrer unwürdige Schwäche war, ſich den
Tod geben zu wollen, well Sie nicht ſterben ſollen, ſo
lange ich es zu ändern vermag. Jetzt gehen Sie, damit
Ihnen die Kälte nicht ſchadet, arme Frau; ich werde mir
erlauben, Sie nach Hauſe zu fuͤhren!ꝰ
Die Unglückliche ſah ihn feindſelig, halb irrſinnig
an. „O ich beſitze kein zu Hauſe, Sie dürfen mich nicht
hindern zu ſterben!“ rief ſie. „Ich will nicht mit Ihnen
gehen, ich will nicht! — Sie haben nicht das Recht,
mich wider meinen Willen zu retten ꝰ

nicht wieder hierher zu kommen! — Wäre für Sie die
Stunde Ihres Todes ſchon jetzt da, ſo würde mich nicht
durch einen ganz beſonderen Zufall die Vorſehung hier-
her geführt haben — überdies iſt der Selbſtmord eine
— verzeihen Sie mir — Feigheit.“
Valeska erröthete trotz der Kälte und die weibliche
Schwäche beſiegte momentan den Trotz.
5O, Sie ſagen ſo ruhig Feigheit!“ rief ſie ver-
wirrt — „ach, mein Gott, wer könnte noch Muth haben
in meiner Lage?“ ö ö
„Es gibt keine, in der uns derſelbe verlaſſen dürfte,
arme Frau! — Je mehr uns anſcheinend mißlang, deſto
energiſcher eben müſſen wir ringen!“ — antwortete der
Fremde. „Wer ſich ſelbſt verloren, der iſt es thatſächlich!“
Er zog den durchnäßten Schleier glatt und be-
feſtigte ihn beſtmöglichſt an ihrem Hute, dann nahm er
die kleine kalte Hand zwiſchen ſeine beiden, während er
die weinende Frau ſchnellen Schrittes davonführte.
„Sie ſind meine Gefangene, Madame,“ fuhr er

fort, „ich entlaſſe Sie nur gegen das Löſegeld eines be-
ſtimmten Verſprechens mit Bezug auf die Trave! —

Erzählen Sie mir nichts, vergeſſen Sie dieſe Stunde des
Unglücks, aber ſagen Sie mir, daß Ihr Weg Sie nie-
mals wieder hierher zurückführen wird.“
„Ich kann nicht! Ich kann nicht leben!“ murmelte
Valeska. „O, Sie ſollten nur wiſſen, wie ſehr Sie mich
martern!“ ö ö
„Das thut mir aufrichtig leid!“ verſetzte mit ernſtem
Tone der Unbekannte. „Aber nehmen Sie einmal meine
Stimme für die des Schickſals, das Ihnen durch mich
ein Halt zugerufen, Ihnen deutlich geſagt hat: Bis hier-
her und nicht weiter!“
„Die Vorſehung ſpottet meiner!“ rief haſtig Va-
leska. „Sie hat mir Alles geraubt, ſie hat mir in je-
der Beziehung gelogen, ſie gönnt mir nicht einmal ein
Grab!“ —
Der Fremde ſtreichelte begütigend die Hand der er-
regten Frau. „Und dennoch liegt das Leben ſeiner
längeren Hälfte nach noch vor Ihnen!“ antwortete er
freundlich.
„Was uns heute bis zum Tode grämt, das kann
morgen anders werden — die Hoffnung iſt ja unſterb-
lich in jeder Menſchenbruſt.“
„Nicht in der meinen!“ rief Valeska. „O, laſſen
Sie mich, laſſen Sie mich, ich kann nichts auf Erden
hoffen, alſo auch nicht länger das Daſein ertragen!“
Sie ſuchte ihren Arm mit gewaltſamer Anſtrengung
zu befreien, ohne daß es ihr jedoch gelungen wäre; der
Fremde blieb ſtehen und hielt ſie ruhig aber feſt an der
Hand zurükk. ö
Im hellen Mondſchein ſtanden ſich beide junge Leute
gegenüber und ſahen einander zum erſten Male voll in

die Augen. Valeska mit dem Ausdruck des Haſſes, der
 
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