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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 35 - No. 43 (3. Mai - 31. Mai)
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Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

A. 36.

Samſtag, den 6. Mai

1876.

Die Gruſt von Steffendorf.
Novelle von H. Fallung.

(Fortſetzung.)

Bei dieſem Geſpräch war ein Aufenthalt in der
Marſchbewegung der Gefangenen⸗Colonne eingetreten.
Aber der Ausdruck von Celine's Schmerz war zu ge-
waltig, als daß Jemand unternommen hätte, dieſe
Störung durch Entfernung des jungen Mädchens zu
beſeitigen.
„Nun wohl,“ entgegnete der Sergeant, in der Abend-
dämmerung ſich zurückwendend und den Arm in der
Richtung ausſtreckend, wo die lodernden Flammen des
etwa eine Stunde entfernt liegenden Bazeilles zum Him-
mel ſtiegen, „durch jenes brennende Dorf hindurch, durch
Bazeilles führt der Weg. Dahinter liegt links, in nicht
gar zu weiter Entfernung, ein bewaldeter Berghang, am
Fuße deſſelben ein Bach mit Weiden. Dort iſt unſer
Regiment vernichtet; dort ſtarben die Meiſten von uns.
dort fiel auch Lieutenant von Noirmont!“
„Ich danke, mein Sergeant“, ſagte Celine leiſe mit
bebenden Lippen und wandte ſich zum Weitergehen, „ich
Werde ihn finden.“
Und ſie fand ihn. Durch die brennenden Trümmer
des zerſtörten Bazeilles hindurch, über Haufen von Schutt
und Leichen hinwegſchreitend, verfolgte Celine ihren Weg.
Die Flammen von Bazeilles mit ihrer dunkelrothen Gluth
erleuchteten ihren weiteren Pfad über die Felder.
die Kräfte verließen ſie bei der übermenſchlichen An-
ſtrengung. Ohnmächtig ſank ſie am Wege nieder.
Als ſie erwachte, war es Nacht. Aber ſie erhob
ſich, raffte den letzten Reſt ihrer Kraft zuſammen und
ſchwankte weiter. Im Grauen des Morgens fand ſie den
ausgetrockneten Waſſerlauf und die verhängnißvollen
Weiden. Sie fand, den Bach entlang und der Anhöhe
zuſchreitend, den entſeelten Körper des jungen Mannes,
deſſen Theuerſtes ſie auf Erden geweſen. Sie fiel neben
ihm zu Boden. Eine neue ſchwere Ohnmacht entrückte
ſie mitleidig aus dieſer Welt voll Jammer und Elend.

*
AN
Als Celine wieder zum Leben erwachte, warf ſie
einen verwunderten Blick um ſich.
Die Einrichtung der freundlichen Stube, die Stube
ſelbſt, in welcher das Bett ſtand, ſchienen ihr bekannt.
In der weißen Wandniſche das aus Elfenbein geſchnitzte
Kruzifix, das Marmortiſchchen am Fenſter, die grünen
Vorhänge des letzteren, der Blick durch das Fenſter über
die Dächer hinweg auf die grauen Hügel — das Alles
war ihr bekannt. Kein Zweifel, es war das Zimmer im
Hauſe des Advokaten Canton zu Carignan, in welchem
ſie nach ihrer Trennung von Alfred Aufnahme gefunden.
Jenes Chriſtusbild in der Niſche blickte noch immer wie
damals, als es ihrer Verzweiflung über jenen Abſchied
Troſt und Frieden ſpendete, ſegnend und huldreich zu
ihr herüber. ö

Schlacht angewieſen.

Aber

Die wüſten Bilder, welche ihr Gehirn erfüllt, ihre
Wanderung nach Sedan, ihre Zuſammenkunft mit dem
gefangenen Sergeanten, der Tod Alfreds von Noirmont
unter den Weiden am Bache waren alſo nur Täuſchungen
einer erhitzten Einbildungskraft. Hatte der Traumgott
ſie belogen, war ſie nie aus Carignan fortgeweſen,
hatte ſie das Haus des Advokaten bis jetzt niemals ver-
laſſen? — — ö ö
Celine ſtrich mit ihren zarten, durchſichtigen und
abgemagerten Händchen das Haar von beiden Schläfen
zurück. Ein mattes Lächeln glitt über ihre von Krank-
heit entſtellten Züge. Sie legte ſich nachſinnend zurück;
bald, obwohl es heller Tag war, umfing ſie wieder ein
ſanfter Schlaf.
Allein Celine hatte richtig beobachtet. Das Gemach,
in welchem ſie ruhete, war das nämliche, welches ihr
Margot, die Wirthſchafterin des Advokaten in deſſen
Hauſe am Marktplatze zu Carignan am Voradend der
Der Zufall wollte es, daß der
junge Johanniter, welcher ſie auf dem Schlachtfelde von
Sedan aufgefunden, nach Carignan beordert ward, um
dort ein Lazareth für Schwerverwundete einzurichten. Er
hatte ſeinen jungen Pflegling mit hierher genommen und,
da er ſelbſt bei dem Advokaten Canton Quartier erhielt,
dafür geſorgt, daß auch Celine dort ein Unterkommen
fand. Der Advokat und ſeine Leute erkannten die be-
wußtloſe Kranke ſofort und räumten mit Freuden der-
ſelben das nämliche Zimmer ein, welches ſie vor ihrem
Verſchwinden aus Carignan bewohnt.
War es Traum, war es Wirklichkeit, daß ſie, wieder
einmal erwachend, durch die halbgeſchloſſenen Lider ein
ernſtes, vornehmes Antlitz über ſich gebeugt ſah, welches
mit ſeinen tiefgrauen, großen Augen ſie forſchend be-
obachtete? Der Blick dieſer Augen wirkte magnetiſch auf
die Schläferin. Sie ſah und erkannte dies edle, ſchoͤne
Geſicht. Es hatte ſich ſchon einmal im Traume zu ihr
herabgeneigt. Denſelben warmen Athem, der jetzt ihre
Wangen berührte, hatte ſie früher ſchon einmal wie einen
himmliſchen Wonneſchauer empfunden. Sie hatte die
nämliche tiefe klangvolle Stimme ſchon einmal vernom-
men, welche jetzt auf die in franzöſiſcher Sprache gemachte
Bemerkung eines Zweiten, der ebenfalls im Zimmer an-
weſend ſein mußte: „Die Kriſis iſt überwunden, ſie iſt
gerettet!“ — in derſelben Sprache aber mit fremd-
ländiſchem Accent die leiſen Worte erwiderte:
„Gott ſei Dank! Es hätte mir wehe gethan, wenn
ſie ſo jung, ſo unglücklich geſtorben wäre!“
Dieſe Worte klangen wunderbar ſüß, wie leiſer
Orgelton. Ihr Herz zitterte unter denſelben; ſie fühlte,
daß ein ſanftes Erröthen auf ihre Wangen ſtieg. Eine
zarte weiche Hand berührte einen Augenblick prüfend ihre
heiße Stirn. Dann war auch dieſes Traumbild wieder
verſchwunden. — — ö ö
Langſam ſchritt die Geneſung Celine's vor.
Als ihre Gedanken klarer wurden, ihr Gedächtniß
mehr und mehr die volle Kraft der Rückerinnerung ge-
wann, empfand ſie den Schmerz über den Verluſt Alfreds
nicht ſo heftig und war durch denſelben nicht in dem
 
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