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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 52 - No. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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Heidelberger Familienblätter.

Velletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M. 56.

Samſtag, den 15. Juli

1876.



Berborgenr Aualen.
Novelle von F. L. Reimar.

(Fortſetzung.)
Die Frau ſtieg die Treppe hinauf und klopfte an
die ihr augenſcheinlich bekannte Thür, erſt leiſe, dann,
als keine Antwort erfolgen wollte, etwas lauter, bis eine
Stimme von innen ſie eintreten hieß.
Sie hatte all' ihren Muth zuſammengenommen und
es ſich vorher hundertmal vorgeſprochen, was ſie dem
Fräulein ſagen wollte, und doch — als ſie jetzt vor
Hedwig ſtand, ſtockte ihr die Stimme, und ſtatt ein Wort
hervorzubringen, brach ſie in Thränen aus.
„Bitte, Sophie, weine nicht, ich — ich kann das
jetzt nicht ertragen!“ ſagte Hedwig, und die Gewalt, mit

der ſie ihr eigenes Empfinden niederhielt, machte, daß

ihre Stimme nahezu etwas Hartes gewann.
Die Frau unterdrückte ihr Weinen und zwang ſich,
ihre Augen zu Hedwig zu erheben, die anſcheinend ruhig
vor ihr ſtand, wenn auch nicht zu verkennen blieb, daß
ſie nur darum ihre Lippen ſo feſt zuſammenpreßte, weil
ſie das Zucken derſelben nicht ſehen laſſen wollte.
„Ich bin ſo troſtlos über das Unglück,“ ſagte die
Frau, und auf's Neue drohte das Schluchzen ihre Worte
zu erſticken. ö
Nicht unſanft, aber feſt legte ihr das Fräulein die
Hand auf den Arm.
„Du weißt, Wehklagen habe ich nie leiden können,
Sophie, auch nicht um mich; darum ſei ruhig! Was
aber wollteſt Du von mir?“
„Ach, gnädiges Fräulein,“ begann nun die Frau,
ſich gewaltſam ſammelnd, „im Unglück laſſen einen die
Menſchen ſo leicht allein, und auch von Ihnen ſagte man
mir's, daß Sie allein geblieben ſeien, ſo Viele ſich auch
ſonſt um Sie gedrängt haben — mein Gott, ich weiß
das ja noch von der Zeit her, als ich in Ihrem Dienſte
war! — und daß kein einziger wirklicher Freund Ihnen
zur Hülfe gekommen wäre, und da dachte ich, wenn doch
Niemand ſonſt Ihnen etwas böte“ — — ſie zögerte
wieder eine Weile, als ſuche ſie nach Worten, um ihr
eigentliches Anliegen vorzubringen.
Ein Zittern, das ſie nicht verbergen konnte, war
durch Hedwig's Geſtalt gefahren. „Niemand?!“ ſagte
ſie halblaut, und es war, als erſchauere ſie ſelbſt im
Innern bei einer Vorſtellung, die ſich ihr bei dem Worte
Nne:: dann aber richtete ſie ſich wieder auf und
agte: ö
„Du irrſt, Sophie, ich ſelbſt wies Alle zuruck, die
zu mir kamen — ich bin zu ſtolz, mich von Fremden
bemitleiden zu laſſen!“
ö „Oh, aber Sie dürfen gegen uns nicht auch ſo ſtolz
ſein, gnädiges Fräulein,“ rief die junge Frau aus, „daß
Sie es uns übel nehmen, wenn wir, mein Mann und
ich, Sie bitten, daß wir Ihnen dienen dürfen! Sie
wiſſen, die Tiſchlerei wirft etwas ab, und da haben wir
uns ein Stübchen eingerichtet, das Sie wohl nicht ganz
ſchlecht nennen würden, und wenn Sie denn doch keinen
anderen Aufenthalt wiſſen — —“

„Um Gotteswillen,“ ſchrie Hedwig faſt auf, „ſprich
nicht weiter, Sophie!“ ö
Eine Weile hielt ſie ihr Geſicht mit den Händen
bedeckt, während ihre Bruſt in heftiger Erregung wogte.
„Ich habe es gut gemeint!“ ſagte die junge Frau
betreten und zugleich verletzt. Das Wort brachte Hedwig
wieder zu ſich; ſie trat auf die ehemalige Dienerin zu,
reichte ihr die Hand und ſagte:
„Ja, du biſt gut, Sophie — beſſer, als ich es um
Dich verdient haben mag! Ich weiß, ich war ſo heftig
— ich habe Dich zuweilen ſchwer gekränkt —“
„Aber Sie waren auch wieder ſo gut!“ ſagte die
junge Frau, welche ſchnell wieder weich geworden war
und die Hand des Fräuleins mit Thränen und Küſſe
bedeckte. ö
„Ich vergeſſe es Ihnen nie, daß Sie mich einſt ſelbſt
pflegten, als ich ſo plötzlich krank geworden war, daß ich
nicht erſt ins Hoſpital geſchafft werden konnte und Nie-
mand im Hauſe mich anrühren mochte, weil Alle vor
Anſteckung bange waren! Und was Sie für meine ar-
men Eltern gethan haben — —“

ö „Still, ſtill davon!“ ſagte Hedwig mit dem alten
gebietenden Ton in der Stimme, ſetzte aber gleich darauf
milde hinzu: „Du haſt mir heute dafür ein Herz gezeigt
und wenn — wenn das Aeußerſte für mich kommen
ſollte, ſo will ich daran denken, aber nun verlaß mich 1“

Die Frau wollte noch etwas ſagen, allein Hedwig
winkte ihr faſt heftig, daß ſie gehen ſollte, und betrübt
ſchlich ſie aus dem Zimmer.
Hedwig mußte allein ſein, denn ihre Kräfte, ihr
Muth, Alles drohte zu erliegen. War es denn wirklich
ſo weit gekommen, daß ihre einſtigen Untergebenen es
wagen durften, ihr Zuflucht und Schutz anzubieten? und
war ſie bis zu dem Selbſtgeſtändniß gedemüthigt wor-
den: es hängt ſonſt keine Seele an dir, als die der
armen Leute, welche wohl ehedem oft genug die Laune
der Herrin gefühlt haben?
Eine wilde Troſtloſigkeit wollte ſich ihrer bemäch-
tigen; aber noch einmal wurde ſie ihren Vorſtellungen
entriſſen, denn nach wenigen Minuten ſchon öffnete ſich
die Thür auf's Neue — ſie hatte vergeſſen, dieſelbe zu-
zuriegeln — und die eben Entlaſſene erſchien wieder auf
der Schwelle. ö
„Verzeihen Sie, gnaͤdiges Fräulein,“ begann ſie,
als ſie die Falte des Unmuths zwiſchen Hedwig's Brauen
bemerkte, raſch: „es war keiner von allen Dienern mehr
da zum Anmelden, da habe ich es übernommen, die
Karte hereinzutragen. Der Herr Doctor läßt fragen,
ob er ſeine Aufwartung machen dürfe.“
Hedwig zuckte empor: Endlich — er war da! Guſtav
Stern war gekommen!
Sie unterdrückte krampfhaft in ſich die Frage, wes-
halb er in dieſem Augenblick eine Förmlichkeit erfülle —
ſie beeilte ſich nur, ihn wiſſen zu laſſen, daß ſie ihn
erwarte. ů
In der nächſten Minute trat er ins Zimmer und
ſie ſchwankte ihm entgegen.
 
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