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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 44 - No. 51 (3. Juni - 28. Juni)
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He

idelberger Vamilienblätter.

30⁰.

Samſtag, den 24. Juni

Beletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

1876.

Die Gruſt von Steffendorf.
Novelle von H. Fallunng.
Cortſetzung.)

Dieſe Verhandlungen verlängerten den Aufenthalt
Celine's in Steffendorf mehr, als ſie wünſchte. Sie be-
wohnte den älteren thurmartigen Anbau des Schloſſes,

deſſen dicke, altersgraue Mauern beſonders feſt, der mit

dem neueren Theile durch eine frei in der Luft hängende
Brücke verknüpft, und deſſen ſchmale Fenſter mit ſchweren
Eiſengittern gegen den Einbruch von Außen beſonders
geſichert waren. Celine hatte gebeten, ihr dieſe Räume
einſtweilen zu überlaſſen, und es fiel Felix nicht ſchwer,
den Grund zu errathen, weßhalb Celine gerade dieſen
weniger behaglichen Bau des Schloſſes zu ihrem einſt-
weiligen Aufenthalte begehrte.
Die Ereigniſſe der letzten Woche hatten nicht ver-
fehlt, einen tiefen Eindruck auf Cöleſtine von Lamark
hervorzubringen. Das Schreckliche, was ihr Auge ge-
ſehen, die Gemeinſchaft der Verbrecher, welche ſie arglos
getheilt, der jähe Tod Franneck's, ihre Flucht nach Steffen-
dorf hatten-ſie geiſtig und körperlich erſchüttert. In den
Tagen ihrer Flucht von Loſa's Genoſſenſchaft war ſie von
Muth und Aufopferung beſeelt worden. Das Bewußt-

ſein, Glück und Wohlergehen Felix' von Steffendorf ruhe

in ihrer Hand rüſtete ſie damals mit Kraft aus. Jetzt,
zu einer verhältnißmäßigen Ruhe zurückgekehrt, zeigten
ſich die Folgen dieſes übermenſchlichen Kräfteaufwandes
in Niedergeſchlagenheit und völliger Abſpannung. Furcht
und Schrecken beherrſchten ſie. Sie war überzeugt, daß
das Verhäggniß, welches Franneck ereilt, in kurzer Zeit
auch ihr bevorſtehe. Wie ein Schreckbild ſchritt die
finſtere Geſtalt des Loſa Georgewitſch durch ihre Träume.
Aeußerlich ſuchte ſie dieſe bangen Beſorgniſſe vor
Jedermann, auch vor Felix Vitus zu verbergen. Sie
bemühte ſich, wie damals in Carignan an der Seite des
Advokaten Canton, bei Führung des Hausweſens und
durch Uebernahme der Geſchäfte des täglichen Verkehrs
im Schloſſe nützlich zu werden. Aber ein jähes Zu-
ſammenſchrecken bei dem kleinſten außergewöhnlichen Ge-
räͤuſche, eine ungewohnte Haſt und Erregbarkeit bei allem
dieſem freundlichen und milden Thun, ließen das, was
in ihrem Innern vorging, dem ſorglichen Freunde leicht
erkennbar werden.
Die Sorge, welche Felix Vitus noch niederbeugte,
war, daß er kein Mittel fand, dieſer Niedergeſchlagenheit
ſeiner Couſine zu ſteuern, ihrer Trennung von Steffen-
dorf vorzubeugen, ſie wieder aufzurichten, ſie empor zu
ſich und an ſein Herz zu ziehen. An dem Tage, an wel-
chem er die Nachricht empfing, daß Cöleſtine's Aufnahme
in Bethanien am erſten Dezember erfolgen könne, empfand
er dieſe Sorge doppelt. Er zweifelte an Cöleſtine's Liebe
ſo wenig, als er darüber im Unklaren war, daß er ſelbſt
dieſe Neigung auf das Leidenſchaftlichſte erwiderte.
Aber als er eines Tages nach dem gemeinſchaftlich
eingenommenen Mittageſſen mit Cöleſtine eine kurze

Worten herausempfinden.

Promenade durch den Park machte und Gelegenheit nahm,
ſie von Neuem zu bitten, Steffendorf nicht zu verlaſſen,
überzeugte ſich Felix Vitus, daß er ſeinem Ziele um
keinen Schritt näher gekommen ſei.
Es war ein unfreundlicher Novembermittag. Am
Himmel jagten zerriſſene Wolken vor der dann und wann
hindurchdringenden trüben Sonnenſcheibe vorüber. Die
Baumwipfel weheten durcheinander und ſchüttelten ihr
fahles Laub auf die Spaziergänger.
„Drängen Sie mich nicht weiter,“ ſagte Cöleſtine,
„Sie wiſſen, daß ich auf der Welt Niemanden als Sie
habe, dem ich vertraue, daß ich auch, wenn Sie Ihren
Wunſch in die Form eines Befehls kleiden, folgen muß.
Es iſt heute der Jahrestag von Beaune la Rolande. Ich
habe, indem ich mich nach Marcilly zurückbegab, dies be-
wieſen. Aber ich bin überzeugt, daß wie damals, auch
heute die Erfüllung Ihres Verlangens Unheil bringen
müßte.“ ö ö
bel blieb bei dieſen Worten betroffen und ver-

letzt ſtehen.

„Sein Sie mir nicht böſe, mein Freund,“ fuhr Cö-
leſtine, die Wirkung ihres harten Ausſpruchs wahr-
nehmend, fort. „Nicht Ihnen, nur meinem eigenen Ver-
hängniſſe galt die Bitterkeit, welche Sie aus meinen
Mir frommt nicht Hoffnung,
ſondern nur Entſagung. Ich muß mich üben, zu ent-
behren und darin allein mein Heil zu finden. Mein
Geſchick iſt — meine Buße für die Vergangenheit. Jedes

auch das ärmſte Glück, welches ich vermeſſen erſtrebe,

zieht mich und diejenigen, welche an mir Theil haben,
ins Verderben. Der Stunde möcht' ich Flügel wünſchen,
die endlich Ihr Verhängniß von dem meinigen trennt.“
Dieſe Worte geſtatteten Felix einen tiefen Einblick
in die Zerfallenheit und die umdüſterte Gemüthsſtimmung
Cöleſtine's. Er athmete weit und ein lebhafteres Roth
ſtieg in ſeine Wangen, als er nach einer längeren Pauſe
des Nachſinnens, überſtrömend von der ſo lange im In-
nern zurückgehaltenen Gluth, ſagte: „Und doch, Cöleſtine,
gibt es einen Weg, auf welchem wir die böſen Geiſter
bannen können, welche jetzt Ihre muthige und reine Seele
niederbeugen, dieſer Weg“ — —
„Halt!“ bat Cöleſtine, ihre weiße Hand vorſtreckend
und dann dieſelbe ausgebreitet gegen ihre Bruſt preſſend,
„ich flehe Sie an, nicht weiter! — Was Sie mir ſagen
wollen — ol ich verſtehe es, noch ehe Sie geſprochen.
Allein es iſt zu ſpät! In mir ſelbſt iſt mein Stolz,
mein Bewußtſein von Tugend und Pflicht fleckenlos —
vor den Menſchen ſchließt die Nachbarſchaft des Gemeinen,
in der ich gelebt, mich von Allem aus, was edel und
ſchuldlos iſt. Dieſe Hand — ſie iſt nicht rein. — Ge—-
wiß, ich kann ſie Niemanden, und am wenigſten Ihnen
reichen, Felix Vitus.“

*
** *

ö ö
Der feuchte Herbſtwind, welcher den Tag über ge-
weht, nahm gegen Abend die Geſtalt eines Orkans an.
Er wälzte ſchwere Wolkenmaſſen, durch welche der Mond
 
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