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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 52 - No. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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Heidelberger Familient

blätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

N. 539.

Mittwoch, den 26. Juli

1876.

Berborgene Aualen.
Novelle von F. L. Reimar.
(Fortſetzung.)

Herr von Fergents Bedauern, heute nicht daheim
geweſen zu ſein, war ein ſehr lebhaftes, als Hedwig ihm
bei ſeiner Rückkehr berichtete, Herr Doctor Guſtav Stern,
gegenwärtig zweiter Badearzt in H., ſei hier geweſen, um
ſich dem Herrn des Hauſes als alten Bekannten zu
empfehlen.
„Stern!“ rief er aus, „Stern, der ideale Doctor,“
wie wir ihn in Jena nannten, hat nach mir gefragt?
daß mir dies Wiederſehen vereitelt werden mußte! Nun,
natürlich ſuche ich ihn baldmöglichſt in H. auf und dann
wird er wohl den Weg nach Fergent häufiger finden.“
„Von wem ſprichſt du, Egbert?“ fragte Frau von
Körner, die in dieſem Augenblick herzutrat und deren

feine Züge — es war überhaupt eine überaus reizende
Erſcheinung — den Bruder freundlich und neugierig
anlachten.

Herr von Fergent wiederholte Hedwig's Meldung
und ſeine eigenen Aeußerungen über den wieder auf⸗-
getauchten Bekannten, wodurch er dann die Erkundigung
hervorrief, weßhalb er dem letzteren jene ideale Bezeich-
nung geliehen habe.
„Nun, wir nannten ihn ſo wegen der hohen An-
ſprüche, die er an alle Menſchen und Dinge ſtellte, in-

dem dieſe durchaus Urbilder der Vollkommenheit ſein

ſollten.“
„Hu!“ ſagte die kleine Frau mit komiſchem Ent-
ſetzen, „dann bringe ihn nur um Gotteswillen nicht in's
Haus, Egbert! ich halte es nicht aus, wenn ich noch ein-
mal wieder in das durchbohrende Gefühl meines Nichts,
das in den Penſionsjahren ſo ſyſtematiſch in uns gepflegt
wurde, zurückkehren ſoll!“
Herr von Fergent lachte. „Sei nur unbeſorgt,
Thekla! ein ſtrenger Richter oder Tadler iſt Stern durch-
aus nicht, vielmehr einer der liebenswürdigſten Charaktere,
unter deſſen Eigenart gewiß Niemand ſo leidet als er
ſelbſt, denn er gibt es nicht den Menſchen oder Dingen
Schuld, wenn er Fehler an ihnen entdeckt, ſondern iſt
nur unglücklich darüber, daß er ſeinen Enthuſiasmus,
mit dem er leicht alles über das gewöhnliche Maß hinaus
— ſeine Freunde ſogar weit über ſich ſelbſt — erhebt,
ſo oft herabſtimmen muß. Und zu ſeinem eigenen Scha-
den iſt ſein Gefühl ein ſehr leicht verletzliches, was ſich
ſchon bei gewöhnlichen Dingen herausſtellt. Ich habe es
3. B. erlebt, daß er ſich von einem Gemälde, welches er
anfangs mehr als wir anderen bewundert hatte, plötzlich
abwandte, weil er einen Fehler an demſelben entdeckt
hatte, der ſeinen Schönheitsſinn verletzte. „„Ich bin be-
kümmert, daß es mir nicht mehr gefällt,““ ſagte er, und
obwohl er dem übrigen Werth des Bildes volle Aner-
kennung zollte, war und blieb ſein Enthuſtasmus er-
loſchen.“ ö
Thekla ſchüttelte das Köpfchen. „Das iſt mir nun
vollends unbegreiflich! Wie kann man nur verlangen,

überall helles Licht und nichts als Licht ſehen zu wollen?
iſt es ja doch viel intereſſanter, wenn auch der Himmel
nicht immer wolkenlos iſt! Egbert, ich glaube, ich kann
Deinen Freund nicht leiden!“

„Dann bringſt Du Dich in entſchiedenen Widerſpruch
mit allen, die ihn kennen,“ ſagte Herr von Fergent
lächelnd, „und ich rathe Dir, gegen die ſehr große Zahl
ſeiner Freunde nicht Front zu machen.“
„Nun ja,“ meinte die junge Frau, „für die Freund-
ſchaft mag er gerade der Rechte ſein, aber ſonſt — ge-
rade herausgeſagt, Egbert, ſollte er eine Geliebte haben,
ſo würde dieſe mich dauern! Ich prophezeie ihr, daß er
eines ſchönen Tages einen Geſchmack in ſich entdecken
wird, dem ſie doch nicht entſpricht und dann wehe um
ſeine Treue! Was ſagen Sie, Hedwig?“
„Es mag ſo ſein, wie Sie ſagen,“ entgegnete die
Angeredete, „nur glaube ich nicht, daß die Menſchen im
Allgemeinen Ihr Mitleid theilen würden. Es gibt ja
ſo Vieles, was es natürlich macht, daß ein Mann ſeinen
Sinn ändert!“
Es lag etwas Eigenthümliches, eine verſteckte Herbig-
keit in ihren Worten, und beiden Geſchwiſtern mußte
dies auffallen, doch erlitt die Unterhaltung in dieſem
Augenblick eine Störung und wie man ſpäter auf das
Geſpräch ſelbſt nicht mehr zurückkam, ſo vergaß man auch,
an Hedwigs Aeußerung noch weiter zu denken.
Bei Herrn von Fergent waren die alten Erinnerungen
übrigens nicht umſonſt rege geworden und ſchon in den
nächſten Tagen führte er ſeinen Entſchluß, nach H. zu
fahren, aus. Sehr befriedigt kehrte er von dem Zu-
ſammenſein zurück und konnte nicht aufhören, den Frauen
von dem alten Univerſitätsgenoſſen, der ihm noch an-
ziehender und bedeutender als früher erſchienen war, zu
erzählen.
„Schade,“ fügte er hinzu, „daß die wachſende Zahl
der Badegäſte ihn mehr und mehr in Anſpruch nimmt
und er ſchwerlich Zeit behalten wird, wie er ſelbſt
meinte, den Damen ſobald wieder ſeine Aufwartung zu
machen.“ ö ö
„Nun, das mag gut für uns wie für ihn ſein,“
rief Thekla; „die Wahrheit zu geſtehen, habe ich in dieſen
Tagen Anwandlungen meines alten Fiebers geſpürt und
ein kranker Menſch, Egbert, kann mitunter recht un-
äſthetiſch ſein — wer weiß, ob ich es nicht gründlich mit
ſeinem Gefühl verdürbe!“
„Wie, Du fühlſt Dich unwohl?“ rief der Bruder,
über den Scherz hinweggehend, ernſt und ſogar etwas
beſorgt, weil er einer erſt kürzlich überſtandenen nicht
unbedeutenden Krankheit der Schweſter gedachte, „dann
wäre es ja geboten, daß wir Doctor Stern geradezu
herbeſchieden, denn da er unſeren alten Hausarzt vertritt,
iſt er ſo gut wie dieſer es ſein würde, verpflichtet, trotz
der Badezeit den Weg zu auswärtigen Patienten zu
machen.“
„Ach, ich dachte nicht daran,“ ſagte die junge Frau
lachend, „daß er ſelber Arzt iſt: über all' den andern
Eigenſchaften Deines Freundes habe ich dieſe eine ver-
 
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