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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 44 - No. 51 (3. Juni - 28. Juni)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M. 49.

Mittwoch, den 21. Juni

1876.

Die Gruft von Steffendorf.
Novelle von H. Fallung.
(Fortſetzung.)

Die Geburt der kleinen Cöleſtine koſtete der armen
Agnes von Lamark das Leben. Treulich erfüllten an der
hinterlaſſenen Waiſe Sulpice und deſſen Frau das Ge-
lübde ihrer Freundſchaft. Aber auch die Frau Poirot
folgte der Freundin nach wenigen Jahren in das Grab.
So blieb die Erziehung Celine's — wie Cöleſtine in der
Poirot'ſchen Familie genannt wurde — der treuen, aber
wenig dazu geeigneten Sorgfalt Sulpice Poirot's über-
laſſen. — ö
ö Die Lampe war herabgebrannt, und der lichte Mor-
gen blickte durch die Fenſterſcheiben, als Felix Vitus die
Durchforſchung dieſer Papiere beendigt hatte. Von Brief
zu Brief, von Blatt zu Blatt war er den darin bezeug-
ten Nachrichten mit immer regerer Theilnahme, bald mit
Erſtaunen, bald mit Ueberraſchung und Wehmuth gefolgt.
Er blieb, nachdem er die Papiere ſorgſam wieder zu⸗-
ſammengebunden, noch lange in tiefem Nachſinnen ver-
loren. Er überdachte die wunderbare Fügung des Him-
mels, welche ihn an den Rand der Armuth geführt, zu-
vor aber ſchon durch ſeinen Beiſtand Derjenigen Rettung
verliehen hatte, welche, in das Leben und den Kreis ihrer
Familie zurückgeleitet, von ſeinem Haupte den drohenden
Untergang abzuwenden beſtimmt war. „Nein,“ ſagte er

aufſtehend vor ſich hin, „und wäre Celine durch tauſend

Eide gebunden, und wäre die ganze Hölle gegen ſie
wach — meine Aufgabe iſt es, ihre Ruhe, Glück und
Zufriedenheit zurückzugeben. Sie gehört fortan mir zu,
ſie iſt von Neuem mein Pflegling — ich ſtelle ſie ſicher
vor jeder Gefahr mit meiner Ehre, mit meinem eigenen
Leben! Denn nun weiß ich, weßhalb von Anbeginn an,
vom erſten Augenblicke, wo ich ſie ſah, ein ahnungsvolles
Gefühl zu ihren Gunſten in mir ſich regte. Die Stimme
der Natur, die geheimnißvolle Kraft des Blutes zogen
mich zu ihr!“ ö

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Die letzte Probe ihres Muthes abzulegen, ward Ce-
line erſpart. Es wurde nicht erforderlich, daß ſie
dem Secretär Bach perſönlich gegenüber trat und hinter
ſeiner Maske den Zigeuner Stoyan Kaſolka erkennbar
machte.
Schon am frühen Morgen war Felix mit den feu-
rigſten Rennern, die er in dem Stalle ſeines Oheims
fand, denſelben, welche den Krankenwagen bei Sedan ge-
führt, nachdem er, für Celine's Sicherheit beſorgt, das
Forſtperſonal des Gutes nach dem Schloſſe beordert hatte,
nach der Stadt gefahren.
Er trug hier ſeine Angelegenheiten dem Director
des Gerichts vor. Dieſer, ein wohlwollender, kenntniß-
reicher „und geſchäftsgewandter Mann, nahm aus den
Mittheilungen, die ihm Felix über die Sachlage voll-
ſtändig machte, auf deſſen beſonderen Wunſch vor Allem

Veranlaſſung, die nöthigen Anordnungen zu treffen, um
den im Zuchthauſe befindlichen beiden Schubert und der
Katharine Schmidt die lang entbehrte Freiheit wieder zu
verſchaffen. Dann erbot er ſich ſelbſt, Felix nach Steffen-
dorf zu begleiten. Es galt, dort die Fälſcher womöglich
zu ertappen und raſch die entſprechenden Vorkehrungen
um den Beſitzſtand des Gutes zu klären, anzuordnen.
Zu dieſem Behufe wurden auch zwei gewandte Gerichts-

diener mitgenommen, welche, in Civilkleidung, einen be-

ſonderen Wagen beſtiegen. Dieſer Wagen folgte dem
Steffendorfer Geſpanne in einiger Entfernung nach.
Am Ende der Stadt zog ſich die Straße eine Strecke
zwiſchen hohen Gartenmauern eingezwängt hin. Am Ende
dieſer engen Gaſſe war die Thorkontrolle.
Als man, aus der Stadt kommend, durch dieſe
Straße fuhr, bemerkte Felix eine Kaleſche, welche an dem
Thore hielt. Die Inſaſſen der letzteren hatten auf ihrer

Fahrt durch die Stadt einen durch Warnungstafeln ab-

geſperrten Weg berührt und wurden deßhalb zur Feſt-
ſtellung ihrer Perſönlichkeit von dem Thorſchreiber an-
gehalten. ö
Felix' ſcharfes Auge erkannte jene beiden. „Die
Fälſcher, die wir ſuchen!“ rief er, aufſpringend, dem

Gerichtsdirektor zu.

Stoyan und ſein Genoſſe waren alſo auf dem
Wege nach Steffendorf. Eine Warnung Loſa's hatte
ſie nicht erreicht, oder ſie glaubten, derſelben ſpotten zu
können.
Der Direktor drückte Felix mit einer kurzen, heftigen
Bewegung im Weiterfahren auf den Sitz zurück.
„Sprechen Sie dieſelben an,“ ſagte er; „es iſt beſſer,
wir treffen ſie hier, als in Steffendorf!“
Das Geſchäft der Reiſenden in der Kaleſche ver-
längerte ſich an der Thorſperre. So kam es, daß beide
Wagen an dem Schlagbaume neben einander hielten.
Felix zog mit unſicherer Hand ſeinen Hut und
grüßte. „Erfreut, Sie zu ſehen, Herr von Lamark,“
ſtammelte er, mit Mühe der Weiſung ſeines Begleiters
ſich fügend. ö
Ein Blick, welchen der Gerichtsdirektor in die Ka-
leſche warf, genügte, um der Sachlage eine andere Wen-
dung zu geben. Der von Felix als Lamark angeredete
Mann war dem Direktor während deſſen früherer Be-
ſchäftigung bei dem Reſidenzgerichte ausreichend bekannt
geworden. Er erkannte den alten Sträfling ſofort wieder.
„Guten Morgen, Buchſpitz,“ grüßte auch er, —
„wohin ſo früh des Weges?“
Dieſer Gruß hatte eine überraſchende Wirkung. Der
ſo eben noch ſtolz aufgebläht in dem Wagen ſitzende ehe-
malige Gerichtskopiſt ſank erbleichend und mit ſchlotternden
Gliedern zurück.
Stoyan Kaſolka begriff ſchnell Alles. Es gab nur
einen Ausweg, den der augenblicklichen Flucht. Er ſchwang
ſich behend und geſchmeidig über den Kutſchenſchlag hin-
weg und rannte in die Stadt zurück.
Der Gerichtsdirektor hob ſich empor und reckte mit
befehlender Geberde ſeinen Arm dem ihm nachfolgenden
Wagen, welcher die Gerichtsdiener führte, entgegen.
 
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