Heidelberger Famill
Veletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
M 76.
Samſtag, den 23. September
Meiſter Pietro Banucci und ſeine Geſellen
ö ö Von Robert Avé-Lallemant. ö
— Nachdruck verboten. Geſ. v 11. VI. 70.
Tauſende von Reiſenden eilen alljährlich mit Eiſen-
bahnfahrt von Florenz nach Rom, von Rom nach Florenz;
aber kaum die Hälfte, ja vielleicht nur Wenige denken
bei der mächtigen Anziehungskraft der beiden eben ge-
nannten Eudpunkte daran, den verſchiedenen zwiſchen
ihnen liegenden Orten, ſeien dieſelben nun unmittelbare
Stationen der Eiſenbahn, oder benachbarte Städte längs
derſelben, einen Beſuch abzuſtatten, ihnen einige Tage
näheren Beſchauens zu widmen. Und doch gidt es mei-
nes Wiſſens in der ganzen Welt keine gleich lange Wege—⸗
linie, an welcher die bildende Menſchheit ſo viele Mo-
numente der edelſten Art an einander gereiht hätte, wie
die zwiſchen Florenz und Rom, ganz abgeſehen von den
großen hiſtoriſchen Erinnerungen, die uns dort überall
erweckt werden, und uns zu ernſten Betrachtungen Ver-
anlaſſung geben.
Nun, jedem Reiſenden ſind theils nach ſeinem vo
der Reiſe gemachten Plan, theils von Zeit und Umſtän-
den beſtimmte Reiſebedingungen geſtellt, und wirklich kön-
nen wir Niemanden ſchelten, welcher da glaubt, daß er
gar nicht genug Zeit in Rom und in Florenz ſein könne,
— Florenz zu beiden Seiten des Arno, ein vollſtändiger
Reliquieubehälter der Kunſt, Rom noch heute und für
immer die urbe del'orbe, von deren monumentalen
Reichthümern im weiteſten Sinne des Wortes man ohne
Selbſtanſicht und eigene Unterſuchung gar keinen Be-
griff hat.
Aber doch, was zwiſchen beiden Städten liegt, iſt
ſo herrlich, ſo großartig, ſo ganz einzig!
Wir wollen in dieſer Geſchichte nur einen einzigen
Punkt zwiſchen Florenz und Rom betreten, nur von
einem einzigen Orte an jener Bahnlinie reden, welcher
faſt gerade in der Mitte gelegen zwiſchen den beiden be-
rühmten Städten, ihnen oft in politiſcher Machtſtellung,
in kirchlicher Bedeutung und in edler Kunſtentwickelung
den Vorrang ſtreitig zu machen ſuchte, und nicht immer
unglücklich war in dieſem verwegenen Streben.
ö Wo der aus dem Apennin herausrauſchende Tiber-
ſtrom die Hauptbahnlinie zwiſchen Florenz und Rom
durchſchneidet und von zwei wunderlichen in nächſter Nähe
neben einander hinführenden Gegenſätzen überbaut iſt,
von einer modernen eleganten Eiſenbahnbrücke und dem
alten derben, nach der Mitte hin ſpitz zulaͤufenden Ponte
S. Giobanni, da ragt weſtlich auf ſchroff anſteigender
Höhe ein Spitzthurm mit Kirche und Kloſtergebäude em-
por, weithin ſichtbar durch das Land und allbekannt un-
ter dem Namen des pennachio di Perugià, des Helm-
buſches von Perugia, der einſt ſo ſtreitbaren Umbriſchen
Haupiſtadt. Das iſt die Basilica di 8S Pietro fuori
delle mura, denn ſie liegt außerhalb den Mauern der
eigentlichen Rocca, wie im Mittelalter alle hochgelegenen
und befeſtigten Punkte in Italien „Rocche“ genannt wur-
den. — Weit nach Südoſten vorgeſchoben hängt die Ba-
ſilica mit der Altſtadt von Perugia durch eine ſchmale
aber lange Vorſtadt zuſammen, welche, ſteil anſteigend,
uns in die Stadt ſelbſt und zu der Bemerkung führt,
daß der berühmte und, aus der Ebene geſehen, ſo hoch
herausragende pennachio von Perugia tief unten im
Otte liegt. Wirklich möchte man ſagen, die Stadt hänge
ſich an manchen Stellen ſelbſt über dem Kopfe, ſuche
auf ihrem böchſten Punkte faſt bis in die Wolken zu
ſteigen, und ſcheine dort, bei einer Höhe von nahezu 2000
Fuß, dieſelben wirklich zu erreichen, wie man denn an
bedeckten Tagen manchmal große Wolkenfetzen durch die
Straßen ziehen ſieht, wenn auch nicht auf dem Pflaſter
derſelben, ſo doch oben um die Dächer der höheren
Häuſer. Bei hellem Wetter dagegen hat man oben von
Perugia nach allen Seiten hin Ausſichten, die wunder-
bar ſchön und wahrhaft entzückend ſind und ſich mit
Worten gar nicht ſchildern laſſen.
Und doch blickt man ſo wenig hinaus nach dieſen
ſchö en und entzückenden Ausſichten, wenn man ſich oben
in Perugia befindet. — Viel lieber ſtaunt man empor
zu den alten Häuſern und dunkeln Paläſten, betrachtet
mit Wohlgefallen Brunnen und Statuen, Kirchen und
Gewölbe, mittelalterliche Feſtungsthürme und römiſch-
etruskiſche Stadtthore, und kann gar nicht genug umher-
irren in dem Netzwerk der engen auf und abſteigenden
Stiraßen, die meiſtens für Wagenverkehr unmöglich ſind
und ſelbſt für Fußgänger an ſchroffen Stellen Vorſicht
verlangen. ö ö
Und wenn man nun gar erſt das Innere dieſer
Paläſte und Kirchen unterſucht! Wahrlich, dieſes Pe-
rugia iſt eine Reliquienkammer aus allen Zeiten der
italieniſchen Geſchichte. Denn es beginnt mit alten Kunſt-
ſchätzen und zahlreichen noch nicht gelöſten Schriftgeheim-
niſſen aus etruskiſchen Gräbern, von denen eines der“
größten und intereſſanteſten grade unterhalb Perugia,
dicht am Ponte S. Giovanni ſich befindet, während im
Nordweſten der Stadt ein etruskiſcher Koloſſalbau, das
ſogenannte Auguſtusthor, faſt an einen altägyptiſchen Py-
lon erinnert und aus vorrömiſcher Zeit ſtammt; denn
nur der Oberbau, eine hübſche Säulendecoration, iſt rö-
miſchen Urſprungs. — Römiſch iſt auch nach einer andern
Seite hin ein in der alten Feſtungsmauer ſteckendes
Stadithor, die porta Martia mit den Inſchriften Colonia
Vibia und Augusta Perusia, falls nicht auch dieſer Bau
noch aus etruekiſcher Zeit ſtammt mit einem großen Theil
der ehemaligen Stadtmauern, auf deren pelasgiſchen
Subſtructionen noch heutigen Tages ganze Gebäude ſtehen
und ſelbſt ein langer Platz, die piazza supramuro, ſich
ausdehnt, ein wirklicher Markt auf elruskiſchem Fun-
dament.
Und nach allen dieſen etruskiſch⸗-römiſchen Antiqui-
täten, in denen ſich ein eigenes Muſeum, recht ein Uni-
tum, in Perugia bei der Univerſität befindet, trifft man
aus altchriſtlichen Zeiten und durch die ganze Wieder-
erweckung der Kunſt, die Renaiſſancezeit hindurch, die
wundervollſten Monumente, von denen allein an intereſſan-
ten Kirchen ſich an drei ig in Perugia befinden. —
Bald bewundern wir hier einen alten ſechszehneckigen
Veletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
M 76.
Samſtag, den 23. September
Meiſter Pietro Banucci und ſeine Geſellen
ö ö Von Robert Avé-Lallemant. ö
— Nachdruck verboten. Geſ. v 11. VI. 70.
Tauſende von Reiſenden eilen alljährlich mit Eiſen-
bahnfahrt von Florenz nach Rom, von Rom nach Florenz;
aber kaum die Hälfte, ja vielleicht nur Wenige denken
bei der mächtigen Anziehungskraft der beiden eben ge-
nannten Eudpunkte daran, den verſchiedenen zwiſchen
ihnen liegenden Orten, ſeien dieſelben nun unmittelbare
Stationen der Eiſenbahn, oder benachbarte Städte längs
derſelben, einen Beſuch abzuſtatten, ihnen einige Tage
näheren Beſchauens zu widmen. Und doch gidt es mei-
nes Wiſſens in der ganzen Welt keine gleich lange Wege—⸗
linie, an welcher die bildende Menſchheit ſo viele Mo-
numente der edelſten Art an einander gereiht hätte, wie
die zwiſchen Florenz und Rom, ganz abgeſehen von den
großen hiſtoriſchen Erinnerungen, die uns dort überall
erweckt werden, und uns zu ernſten Betrachtungen Ver-
anlaſſung geben.
Nun, jedem Reiſenden ſind theils nach ſeinem vo
der Reiſe gemachten Plan, theils von Zeit und Umſtän-
den beſtimmte Reiſebedingungen geſtellt, und wirklich kön-
nen wir Niemanden ſchelten, welcher da glaubt, daß er
gar nicht genug Zeit in Rom und in Florenz ſein könne,
— Florenz zu beiden Seiten des Arno, ein vollſtändiger
Reliquieubehälter der Kunſt, Rom noch heute und für
immer die urbe del'orbe, von deren monumentalen
Reichthümern im weiteſten Sinne des Wortes man ohne
Selbſtanſicht und eigene Unterſuchung gar keinen Be-
griff hat.
Aber doch, was zwiſchen beiden Städten liegt, iſt
ſo herrlich, ſo großartig, ſo ganz einzig!
Wir wollen in dieſer Geſchichte nur einen einzigen
Punkt zwiſchen Florenz und Rom betreten, nur von
einem einzigen Orte an jener Bahnlinie reden, welcher
faſt gerade in der Mitte gelegen zwiſchen den beiden be-
rühmten Städten, ihnen oft in politiſcher Machtſtellung,
in kirchlicher Bedeutung und in edler Kunſtentwickelung
den Vorrang ſtreitig zu machen ſuchte, und nicht immer
unglücklich war in dieſem verwegenen Streben.
ö Wo der aus dem Apennin herausrauſchende Tiber-
ſtrom die Hauptbahnlinie zwiſchen Florenz und Rom
durchſchneidet und von zwei wunderlichen in nächſter Nähe
neben einander hinführenden Gegenſätzen überbaut iſt,
von einer modernen eleganten Eiſenbahnbrücke und dem
alten derben, nach der Mitte hin ſpitz zulaͤufenden Ponte
S. Giobanni, da ragt weſtlich auf ſchroff anſteigender
Höhe ein Spitzthurm mit Kirche und Kloſtergebäude em-
por, weithin ſichtbar durch das Land und allbekannt un-
ter dem Namen des pennachio di Perugià, des Helm-
buſches von Perugia, der einſt ſo ſtreitbaren Umbriſchen
Haupiſtadt. Das iſt die Basilica di 8S Pietro fuori
delle mura, denn ſie liegt außerhalb den Mauern der
eigentlichen Rocca, wie im Mittelalter alle hochgelegenen
und befeſtigten Punkte in Italien „Rocche“ genannt wur-
den. — Weit nach Südoſten vorgeſchoben hängt die Ba-
ſilica mit der Altſtadt von Perugia durch eine ſchmale
aber lange Vorſtadt zuſammen, welche, ſteil anſteigend,
uns in die Stadt ſelbſt und zu der Bemerkung führt,
daß der berühmte und, aus der Ebene geſehen, ſo hoch
herausragende pennachio von Perugia tief unten im
Otte liegt. Wirklich möchte man ſagen, die Stadt hänge
ſich an manchen Stellen ſelbſt über dem Kopfe, ſuche
auf ihrem böchſten Punkte faſt bis in die Wolken zu
ſteigen, und ſcheine dort, bei einer Höhe von nahezu 2000
Fuß, dieſelben wirklich zu erreichen, wie man denn an
bedeckten Tagen manchmal große Wolkenfetzen durch die
Straßen ziehen ſieht, wenn auch nicht auf dem Pflaſter
derſelben, ſo doch oben um die Dächer der höheren
Häuſer. Bei hellem Wetter dagegen hat man oben von
Perugia nach allen Seiten hin Ausſichten, die wunder-
bar ſchön und wahrhaft entzückend ſind und ſich mit
Worten gar nicht ſchildern laſſen.
Und doch blickt man ſo wenig hinaus nach dieſen
ſchö en und entzückenden Ausſichten, wenn man ſich oben
in Perugia befindet. — Viel lieber ſtaunt man empor
zu den alten Häuſern und dunkeln Paläſten, betrachtet
mit Wohlgefallen Brunnen und Statuen, Kirchen und
Gewölbe, mittelalterliche Feſtungsthürme und römiſch-
etruskiſche Stadtthore, und kann gar nicht genug umher-
irren in dem Netzwerk der engen auf und abſteigenden
Stiraßen, die meiſtens für Wagenverkehr unmöglich ſind
und ſelbſt für Fußgänger an ſchroffen Stellen Vorſicht
verlangen. ö ö
Und wenn man nun gar erſt das Innere dieſer
Paläſte und Kirchen unterſucht! Wahrlich, dieſes Pe-
rugia iſt eine Reliquienkammer aus allen Zeiten der
italieniſchen Geſchichte. Denn es beginnt mit alten Kunſt-
ſchätzen und zahlreichen noch nicht gelöſten Schriftgeheim-
niſſen aus etruskiſchen Gräbern, von denen eines der“
größten und intereſſanteſten grade unterhalb Perugia,
dicht am Ponte S. Giovanni ſich befindet, während im
Nordweſten der Stadt ein etruskiſcher Koloſſalbau, das
ſogenannte Auguſtusthor, faſt an einen altägyptiſchen Py-
lon erinnert und aus vorrömiſcher Zeit ſtammt; denn
nur der Oberbau, eine hübſche Säulendecoration, iſt rö-
miſchen Urſprungs. — Römiſch iſt auch nach einer andern
Seite hin ein in der alten Feſtungsmauer ſteckendes
Stadithor, die porta Martia mit den Inſchriften Colonia
Vibia und Augusta Perusia, falls nicht auch dieſer Bau
noch aus etruekiſcher Zeit ſtammt mit einem großen Theil
der ehemaligen Stadtmauern, auf deren pelasgiſchen
Subſtructionen noch heutigen Tages ganze Gebäude ſtehen
und ſelbſt ein langer Platz, die piazza supramuro, ſich
ausdehnt, ein wirklicher Markt auf elruskiſchem Fun-
dament.
Und nach allen dieſen etruskiſch⸗-römiſchen Antiqui-
täten, in denen ſich ein eigenes Muſeum, recht ein Uni-
tum, in Perugia bei der Univerſität befindet, trifft man
aus altchriſtlichen Zeiten und durch die ganze Wieder-
erweckung der Kunſt, die Renaiſſancezeit hindurch, die
wundervollſten Monumente, von denen allein an intereſſan-
ten Kirchen ſich an drei ig in Perugia befinden. —
Bald bewundern wir hier einen alten ſechszehneckigen