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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 87 - No. 95 (1. November - 29. November)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

V 87.

Mittwoch, den 1. November

1876.

Baleska.
Novelle von S. v. d. Horſt.

Nachdruck verboten. Geſ. v 11. VI. 70.

I.

Traußen lag ſonnenglänzend der Frühling auf
tauſend halberſchloſſenen Blumenkelchen, draußen ſangen
mit neuer Heimathsfreude die wiedergekehrten Vögel ihre
anmuthigen Weiſen — drinnen im Zimmer lehnte am
Fenſterkreuz eine ſchlanke bleiche Frau und ſchaute theil-
nahmlos hinab in die lärmende Straße.

Ihr zartes Geſicht war faſt erſchreckend blaß und
die großen ſchwarzen Augen hatten feine verräͤtheriſche
blaue Kreiſe. „Heute, heute noch!“ murmelte ſie tonlos,
indeß die kleinen weißen Zähne das Spitzentuch unbe-
wußt zerbiſſen — ſo oder ſo muß der Würfel fallen!
—5 längere Fortdauer dieſes Zuſtandes ertrage ich
nicht!“ —
Sie ſchüttelte trotzig, mit unheimlichem Aufleuchten
der Augen den kleinen Kopf, deſſen glänzend ſchwarze
Wellen üppig krauſen Haares über der Stirn eine Art
von Diadem bildeten und wie ſuchend, fragend, ruhten
ihre Blicke auf den fernen blauen Fluthen eines Stromes,
deſſen ſonnenbeſchienenes Bett gleich einem helleren Strei-
fen hinter der rauchgeſchwärzten Häuſermaſſe, hinter

Kirchen und Fabrikſchornſteinen, die Außenſeite der Stadt

begrenzte. ö
„Ich will das Letzte verſuchen,“ dachte ſie, „will
ohne Liebe, ohne Glück nur der Pflicht leben, wenn
Waldemar heute verſpricht, ſich zu ändern! Ich will,
wenn er nicht thut, heut', an meinem Hochzeitstage —
ſterben!“
Sie drückte die heiße Stirn gegen das kühlende
Glas der Fenſterſcheibe und ſtand ſtumm, regungslos
brütend da, bis hinter ihr die Thür ſich öffnete und ein
Mann von etwa ſechsunddreißig Jahren ins Zimmer
trat — Waldemar v. Leisrink, ihr Gatte. Als ehema-
liger preußiſcher Offizier und bildſchöner Mann hatte er
die Liebe der heißblütigen Polin im Fluge erobert und
ſie mit ſich in die deutſche Heimath entführt, aver, was
auf kurze Zeit durch das erſte Glück der jungen Ehe
etwas in den Hintergrund getreten war, die unſelige
Neigung für den Trunk — das erwachte mit verdoppel-
ter Stärke, als jetzt durch die unbeſonnene Heirath, bei
der ein gutmüthiger Vetter die Caution hinterlegt, auch
neuen und verdoppelten Anſprüchen genügt werden ſollte.
Drei Jahre, in deren Verlauf der häusliche Friede im-
mer mehr Schiffbruch litt, gingen hin; dann wurde
Lieutenant v. Leisrink unter der Hand aufgefordert, ſeinen
Abſchied zu nehmen, um nicht als notoriſcher Trinker
und Schuldenmacher ſchimpflich entlaſſen zu werden. Mit
dieſem Ereigniſſe und dem Umzuge nach Lübeck, wo die
Travemünder Spielbank eine Scheinexiſtenz für kurze
Zeit aufrecht hielt, brach der letzte Reſt des bisher we-
nigſtens äͤußerlich bewahrten guten Einvernehmens zu-
ſammen. Stürmiſche Scenen und heftige Ausbrüche

wechſelten mit ſtumpfer Gleichgültigkeit, während der
Branntwein und die ſchlechte Geſellſchaft unglaublich

ſchnell auch die guten Sitten des gebildeten Mannes, bei

dem einſt ſo feinen eleganten Cavallerie⸗Offizier in offen-
bare Rohheit umwandelten. Fälle, in denen Herr von
Leisrink gegen ſeine Frau die Schmähworte der niederen
Volksklaſſen zur Anwendung brachte, gehörten nicht mehr
zu den Ausnahmen, obgleich er ſie dennoch in gewiſſer
Weiſe liebte und niemals, auch ſelbſt im ärgſten Rauſche
nicht, einen Streit ſeinerſeits provocirte. Sie dagegen
hatte für ihn längſt keinen Gedanken mehr, ſie haßte ihn
nicht einmal, ſondern vergaß, daß er lebte, ſobald nicht
ſein Anblick ihr die Erinnerung an das zur Selavenkette
gewordene Band wider Willen aufdrängte. Die täglich
zunehmende Geldverlegenheit, die entſetzliche Unſicherheit
ihrer Lage aber ließ ſie endlich deſſen ſo überdrüſſig wer-
den, daß ein finſterer Entſchluß mehr und mehr Boden
gewann. Noch einen Verſuch, einen letzten, wollte ſie
wagen, einmal noch das Vergangene, wenn auch ungläu-
big und kopfſchüttelnd, wieder herauf beſchwören zum
Halt für die Zukunft — ſonſt war mit heute, mit dem
vierten Jahre ihrer Ehe, Alles vorbei.
Sie zuckte unmerklich beim Klange der Thüre und
wandte ſich um. So ſtand es zwiſchen den Cheleuten,
daß Herr v. Leisrink von ihrer Gegenwart keinerlei
Notiz nahm, ſondern mit unſicherem Gange und geſenk-
tem Blick zum Tiſche trat, auf dem ein ſpärliches Früh-
ſtück ſervirt war. Er griff in die Taſche ſeines an der
Wand hängenden Rockes und ſtellte ein kleines Fläſchchen
neben den Teller. Ehe er Platz nahm, öffneten die leiſe
zitternden Finger den Kork und der widerliche Geruch
des Branntweins erfüllte das ganze Zimmer; dann be-
gann der unſelige Sklave ſeiner Leidenſchaft ſchweigend
das Frühſtück, ohne die junge Frau irgendwie zu beach-
ten; doch legte er von dem Fleiſchreſt auf dem Teller die
beſſere Haͤlfte zurück, als wolle er ihr überlaſſen, dieſelbe
ſpäter zu verzehren. Ein halb verhungerter Jagdhund
legte die Schnauze auf das Knie ſeines Herrn und ſprang,
als er den abgenagten Knochen erhalten, ungenirt auf
das Sopha, um mit Mühe die letzten Faͤſerchen zu ge-
nießen. — ö
Die junge Dame ſchien lange unſchlüſſig, wie ſie
beginnen ſollte; ihre Blicke ruhten mit einer Art von
Grauen auf dem verfallenen Aeußern des Mannes, ſei-
nen bebenden Händen und dem dünn gewordenen Haar,
auf der Flaſche, deren Inhalt ihr ganzes Glück ſo mit-

leidslos zerſtört, und auf einem in der bekannten Form

behördlicher Mittheilungen gebrochenen Briefe, welcher
neben ihr im Fenſter lag. Sie verſuchte mehrere Male,
zu ſprechen, bevor es ihr gelang, eine Silbe laut heraus-
zubringen. ö
„Waldemar — ich wollte dir etwas ſagen!“

Er kaute weiter und reichte dem Hund einen Biſſen
Brod, ohne aufzublicken.

„Nun?“ fragte er mit mürriſchem Tone und wäh-

rend das dem Thier geltende Lächeln in ſeinen Zügen
der eifrigſten Kälte Platz machte. „Nun?“
 
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