Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst-Halle — 6.1900/​1901

DOI Heft:
Nummer 3
DOI Artikel:
Wirth, Robert: Gewerbliche Geschmackslehre
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.65263#0046

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


Die Aunst-Halle

Nr. 3

nach Zopfstil klingt, was ist Geschmack! sagt man
heute allerwärts mit Achselzucken. Der Geschmack
bin ich, sagt der zeitgenössische Künstler; der Geschmack,
sagen andere und wiederholen dabei breitgetretene
Aussprüche — der Geschmack ist etwas Subjektives,
Modisches, Strittiges, Zeitliches, Traditionelles —
wo hört der Geschmack auf und wo und für wen
beginnt die Geschmacklosigkeit? Und wer ist Ge-
schmacksrichter? Der Künstler, der Professor, das
Publikum? Nicht unmittelbar sind allerdings diese
Leute die Richter — das Kunstgericht ist auch hier
die Kunstgeschichte, wie bekanntlich die Weltgeschichte
das Weltgericht ist. Die Geschichte allein klärt,
während die Gegenwart verwirrt und zweifelt; die
streitende Kunst haben wir in der Gegenwart, die
triumphirende, nachdem die Zeit streng gesichtet, ge-
rettet und verworfen, in der Vergangenheit. Sollen
denn, mit Beziehung auf die gewerbliche Geschmacks-
lehre gesagt, auch die Meister der angewandten
Kunst vergeblich gelebt, sollen sie uns in ihren Werken
nur ein todtes Kapital aufgespeichert haben? Für
die Jugend soll dies gewiß nicht der Fall sein!
Bei der Zugend kommen wir ohne historische Typen,
Muster, nicht aus, weder auf künstlerischem noch auf
literarischen: Gebiete. „Mit einer erwachsenen Gene-
ration", sagt Goethe, „ist nicht viel anzufangen weder
in körperlichen Dingen noch in geistigen, weder in
Dingen des Geschmacks noch des Urtheils; fangt
es aber mit der Zugend an und es wird gelingen",
wenn Rousseau den physischen Geschmack seines Emil
bilden wollte, so wollen wir es also mit der Bildung
des ästhetischen Geschmacks unserer Zugend versuchen.
Freilich ist weder das Wort Geschmackslehre
noch die damit bezeichnete Sache neu, wohl aber ihre
Anwendung in gewerblichen Rnterrichtsanstalten und
vornehmlich in Handelsschulen. Geschmacksbildung
soll nicht länger nur dem Zeichenunterrichte oder dem
methodischen oder gelegentlichen Muster- und Bilder-
sehen überlassen bleiben.
Der Begriff Geschmack, der sich heute beinahe
nur auf das Bereich der Frauenmode zurückgezogen
hat, war im vorigen Jahrhundert auf dem Gebiete
der allgemeinen Aesthetik ganz geläufig. Werken über
den „Geschmack" von Engländern und Franzosen
folgten schließlich auch deutsche Schriften. Sulzer
(st (77s)) bezeichnete die Aesthetik geradezu als Ge-
schmackslehre. Man glaubte auch damals allgemein
an die Möglichkeit einer Bildung des Geschmacks.
„Keiner unsrer Sinne ist so gewöhnbar und verwöhn-
bar als der Geschmack — geistig und körperlich",
sagt Herder in der Kalligone. Selbst das Genie,
meinte man, bedürfe des Geschmacks, ja, Schiller
behauptete in einem Fenion — offenbar mit Rück-
sicht auf die damaligen sogenannten Kraftgenies —,
daß sich Genie und Geschmack selten vereinen, weil
der Geschmack die Kraft fürchte, das Genie aber
den Zaum verachte. Beiläufig: Käme Schiller heute

wieder, wie würde er seine Wahrnehmung an der
Kunst unsrer Zeit bestätigt finden! Ls scheint in der
That, als ob heute noch das Genie in der Kunst
seine „Tölpeljahre" ohne Geschmack habe. Doch
kehren wir zu unseren historischen Bemerkungen
zurück! Zoh. Adolf Schlegel (ff (7s)3), der Ueber-
setzer und Erklärer Batteux', Vater des berühmten
Brüderpaars Schlegel, schrieb zwei Abhandlungen:
von der Nothwendigkeit, den Geschmack zu bilden
und: von der frühzeitigen Bildung des Geschmacks.
Auch bei Herm. Hettner kehrt der Begriff Geschmacks-
bildung wieder: in seiner Vorschule zur bildenden
Kunst der Alten behauptet er, eine harmonische Er-
ziehung ohne eine reine Geschmacksbildung sei schlechter-
dings undenkbar. Und heute hört man es aus allen
Ecken und Enden pfeifen, daß auch die Lehrer der
gymnasialen Jugend „die Erziehung des Auges und
die ästhetische Bildung" fördern müßten. Nun, wenn
man, wie Sokrates behauptete, den Menschen sogar
moralisch bilden kann, so kann man ihn sicherlich
auch ästhetisch bilden, wenn man allerdings die
künstlerische Geschmacksbildung des weitaus größten
Theils der Leute, die ihre Bildung dem Gymnasium
verdanken, betrachtet, so bedarf es wahrlich auch
nicht der Warnung vor einer Ueberschätzung der
Geschmacksbildung, wie Schiller auf die Gefahr
ästhetischer Sitte (Horen (7s)5) hinwies. Auch kann es
ja keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß, wenn man
heute die etwas übermüthige Frage aufwirft: Sitt-
liche oder ästhetische Weltordnung? — daß, sage ich,
diese Frage überhaupt als disjunktive Frage falsch
gestellt ist: nimmt man nämlich eine Weltordnung
überhaupt im Sinne einer vorbedachten und über-
wachten menschlichen Einrichtung an, so kann eine
solche doch nur zuhöchst eine sittliche und damit eine
ästhetische sein.
„Geschmack" erklärt Herr st>rof. Hofmann in
seiner erwähnten Erläuterung als „Sinn für das
Schöne". Da hätten die „Modernen" ja gleich
wieder Gelegenheit, die Nase zu rümpfen — oder
meint man nicht jetzt, daß der Begriff Hes Schönen,
wenn man einen solchen überhaupt finde (und die
Bemühungen ganzer Jahrhunderte schreckten davon
ab), gar keine Bedeutung für unsere Kunstbeurtheilung,
für unseren Geschmack, haben könne, ja daß der
laienhafte „Sinn für das Schöne" sogar zu einer
mangelhaften und selbst falschen Beurtheilung von
Kunstwerken führe? Aber — mag man noch so sehr
gegen das beliebte Wort eifern — wir werden, Gott
sei Dank! die „schönen" Dinge in der Welt — es
werden ihrer in jedem Zahre neue geboren — und
damit auch den Ausdruck „schön" nicht los. Schön
ist eben objektiv eine sinnenfällige mit gewissen Dingen
selbst gegebene Eigenschaft, welche, wie Farbe und
Klang, überhaupt nicht als Begriff vorgestellt, sondern
vielmehr als Reiz empfunden wird. Die Natur treibt
stets Anschauungsunterricht und ihren Demonstrationen
 
Annotationen