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Die Kunst-Halle — 6.1900/​1901

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Nummer 16
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Rücklin, R.: Unpersönliche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.65263#0284

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2H6 >—Die Run st-Halle -k-— Nr. s6

die Kunstpflege der vergangenen Jahrzehnte, als ob
während dieser Zeit die Individualität absichtlich
unterdrückt worden sei. Etwas Wahres ist, nebenbei
bemerkt, daran, wenngleich naturgemäß von einer
Absicht dabei nicht gesprochen werden kann. Aber
davon soll hier jetzt nicht die Rede sein, sondern von
der Frage: Ist wirklich der künstlerische Individua-
lismus das Charakteristische und weiter zu pflegende
an der modernen Kunst?
Man kann unter dieser Bezeichnung ja freilich
Verschiedenes verstehen. Niemals und unter keinen
Umständen wird etwas dagegen eingewendet werden
können, daß Alles, was die einzelne Persönlichkeit an
Schätzenswerthem vor oder neben Anderen enthält,
nach Möglichkeit gepflegt und seine freie Entfaltung
gewährleistet werde. Aber bloß deswegen, weil es
schätzenswerth, und nicht deswegen, weil es anders
ist. Aber gerade die Neigung, unter allen Umständen
etwas Anderes zu sein und zu geben als alle Anderen,
macht sich ganz unleugbar in der Künstlerwelt unserer
Tage mehr geltend, als es für die Entwickelung
einer gesunden Tradition ersprießlich erscheint. Man
muß sich nur klar macken, wohin dieser Lieblings-
gedanke der Moderne, ein durchgeführter Individu-
lismus, endlich führen müßte: Zu einer Künstler-
republik von lauter unregistrirbaren Originalen, zu
einem Konzert mit lauter Solisten. Es ist eben ein
Unterschied, ob eine Individualität sich entwickelt und
sich ausprägt — naturgemäß, von innen heraus —,
oder ob sie mit bewußter Absicht großgepflegt wird.
Es ist nicht einerlei, ob eine Künstlerpersönlichkeit
auffällt, weil sie Neues zu sagen weiß, oder ob sie
nach dem noch nicht Dagewesenen greift, um auf-
zufallen. Vom Erhabenen zum Lächerlichen, von den:
Ringen des originalen Künstlergenius bis zu den
äußerlichen Scheinleistungen des geistigen Hochmuthes
und der Ruhmsucht ist für das Leben in der Gegen-
wart nur ein Schritt. Die einzige, oder wenigstens
größte Anfgabe, welche der Selbsterziehung eines
Künstlers gestellt werden kann, ist die, sich ein mög-
lichst großes, reines und echtes Kunstwollen und
Kunstvermögen anzuerziehen. Ob das dann ein
einzigartiges wird, oder ob es sich an eine allgemeine
Richtung oder eine zahlreich vorhandene Oualität
anschließt, darin ist ein Eingreifen am letzten Ende
ja doch nicht möglich. Und die Sucht, aufzufallen
und dadurch berühmt zu werden, ist ein ergiebiger
Boden für die giftige Frucht des falschen Schein-
erfolges; dieser Boden aber wird gedüngt durch das
Gerede vom modernen Individualismus in der Kunst.
Gerade wir Deutschen, die wir so leicht geneigt
sind, etwas Derartiges prinzipiell aufzufassen und
auszuprägen, sollten uns wohl bedenken, ehe wir ein
solches Schlagwort sich einbürgern lassen. Das stete
Betonen des künstlerisch Eigenartigen, des Besonderen
und Unabhängigen verwirrt uns schließlich das Ge-
fühl für den Unterschied zwischen „hervorragend" und

„auffallend", läßt uns das Kapriziöse überschätzen zu
Ungunsten des Gediegenen. Man hat es so oft ge-
rühmt, daß unsere Zeit es verstanden habe, eine
Plakatkunst zu entwickeln; nun will es manchmal
scheinen, als ob dies eine Schmarotzerpflanze sei, die
den ganzen Baum unserer Kunstentwickelung über-
wuchern wolle, als ob uns statt einer Heimathkunst,
nach der wir uns so heiß gesehnt haben, eine Plakat-
kunst, eine Kunst des Auffallenden beschieden sein
solle, wir wollen uns doch nicht blenden lassen:
die Aufgabe eines Kunstwerkes darf es nun und
nimmer sein, aufzufallen, das Wort in gewöhnlichem
Sinne verwendet. Und auch ein Plakat, wenn es
anders dauernden künstlerischen Werth haben soll,
muß vor Allem den selbstverständlichen Eindruck des
organisch Gewordenen machen. Alles Auffallende
verliert bei längerer Bekanntschaft; das echte Kunst-
werk muß sich umgekehrt verhalten.
Noch ein anderer Nachtheil droht unserer Kunst-
entwickelung von einem übertriebenen Individualis-
mus: daß auch Diejenigen für sich allein stehen
wollen, die gar nicht das Zeug dazu haben, die nur
etwas Gediegenes leisten können durch ehrliches Ver-
arbeiten dessen, was ihnen die Großen, die Bahn-
brecher überliefern. Das war ja immer so, und
wird auch immer so bleiben, daß die mittelmäßigen
und kleinen Talente von den Großen lernen, daß sie
die Natur mehr oder weniger mit ihren Augen an-
sehen, um etwas künstlerisch Werthvolles herauszu-
bringen, daß sie ihre Phantasie großziehen mit fremden
Bildern, um sie zur Erzeugung von Eigenem fähig
zu machen. Und wie viele „originelle" Leistungen
kommen einem heutzutage zu Gesicht, bei deren An-
blick man dem Urheber rathen möchte: „Lerne doch
lieber noch mehr, gehe doch bei dem oder jenem noch
in die Schule, ehe Du solches „individuelles" Zeug
produzirst." Und wie wegwerfend hört man gerade
seit dem Auskommen der Moderne oft jüngere
Künstler reden vom Besuch von Schulen, vom Lesen
von Kunstzeitschriften rc. —, als ob das alles Dinge
seien, die eine künstlerische Individualität eigentlich
nicht nothwendig hat, die ihre eigenartige Entwicke-
lung mehr stören als fördern könnten.
Gerade hierin liegt eine besondere Gefahr für
unser künstlerisches und kunstgewerbliches Schulwesen.
Sich für eine besondere Individualität zu halten,
liegt im Wesen der Jugend vorweg, ganz besonders
aber im Wesen jedes künstlerisch beanlagten Menschen.
Liegt im Zug der Zeit eine über das richtige Maaß
hinausgehende Werthschätzung jeder individuellen
Kunstäußerung, so muß sich die Jugend da ja ganz
besonders wohl fühlen. Ob aber das ernste, nüchterne
Studium unter einer derartigen Anschauung nicht
Noch leiden, ob es nicht schließlich heißen muß:
Original, fahr' hin in Deiner Pracht!? —
Unsere Kunst hat wahrlich lange genug nicht
gewagt, ganz auf eigenen Füßen zu stehen, hat lange
 
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