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Die Kunst-Halle — 6.1900/​1901

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Nummer 17
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Rücklin, R.: Unpersönliche Kunst
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262 >—Die Aun st-Halle -z——> Nr. ^7

vidualismus, der nicht nur vom Selbstbewußtsein,
sondern in erster Linie von der Selbsterkenntniß be-
dingt ist, getragen ist.
Freilich müssen wir auch hier wieder mit einer
Einschränkung kommen. Das Streben nach Selbst-
erkenntniß hat auch seine zwei Seiten, und wenn es
in Spekulation und Philosophisterei umschlägt, so ist
es Gift für jedes künstlerische Schaffen. Bis zu
einem gewissen Grade ist die glückliche Blindheit über
das Erreichbare und über die Mühe, welche das
Erreichen kosten wird, ein Sporn zu größtmöglicher
Anstrengung: —
Ach — Niemand hätt' wohl auf dieser Melt
Sich se ein würdiges Ziel gestellt,
Menn er irgend wüßte vorher,
Mie schwer es errungen wird, wie schwer! —
So ist es im Einzelnen, so in der Gesammtheit.
Mir wissen nicht, wohin die Entwickelung unserer
modernen Kunst noch treiben wird, wir wissen nicht,
wie hoch ihr vom Schicksal das Ziel gesteckt ist-
Mie reizvoll ist es, da mitzuarbeiten, mitzuhoffen,
mitzuentdecken! Um wieviel reizvoller, als in den
Jahrzehnten historischer Kunst, wo gleich bei jeder
Stilschwenkung die Wissenschaft bei der Hand war,
um die Grenzen des neuen Gebietes festzustecken. —
Jedes Studium, fedes Streben ist ja schließlich ein
mühsamer Gang ins Unbekannte, und diese glück-
liche Mühsal ist es, die den echten Künstler nie ver-
läßt, so lange er als solcher thätig ist. Ze tiefer er
aber eingedrungen sein wird in das Mesen der Kunst
und seine eigene, künstlerische Persönlichkeit, desto
mehr wird ihm seine eigene Individualität ver-
schwinden vor der Kunst, die in ihr lebt.
„Unpersönliche Kunst" ist dieser Aufsatz über-
schrieben. Das Mort bedarf einer Erklärung. Un-
persönliche Kunst ist die nachempfundene Kunst, ist
die Leistung des mittleren und kleinen Talentes. Sie
verhält sich zur Kunst der führenden Kleister, wie die
Schriftstellerei zur Dichtung, und hat die gleichen Auf-
gaben zu erfüllen, wie diese gegenüber der letzt-
genannten. Mer ist es, der unsere großen Dichter
dem Volke nahe gebracht und für seine geistige Ent-
Wickelung fruchtbringend gemacht hat? Sie selber
waren jedenfalls dazu nicht im Stande. Es sind die
Schriftsteller, die kleinen Poeten, die, bewußt oder
unbewußt, das Erbe jener Großen verwaltet und
ausgemünzt haben. Sie haben damit mehr gethan,
als wenn sie nur Eigenes und Originales produzirt
hätten. Ls ist im Bereich der bildenden Kunst nicht
anders. Mer nicht Pfadfinder und Bahnbrecher sein
kann, der diene. Einer ihm zusagenden Richtung,
einer bestimmten Spezialität. Er wird mehr gethan
haben, wenn er sich als Baustein dem großen Ge-
bäude einfügen läßt, als wenn er sich abseits auf
ein individualistisches postamentchen stellt.
Und schließlich ist es ja gerade die individuelle
Kunst, die Kunst der Persönlichkeit, welche zu ihrer

dauernden Wirksamkeit des Bestehens einer un-
persönlichen Richtungskunst nicht entbehren kann.
Diese ist sozusagen die Vorbedingung, die Unterstufe
für jene. Auf diesen: Satze beruht ja doch unser
ganzes künstlerisches Unterrichtswesen. wenn die
moderne Kunst wirklich die Entwickelung des absoluten
Individualismus zum Ziel hat, so kann man unsere
Lehranstalten ruhig zuschließen, denn die Thätigkeit
eines Kunstlehrers, er unterrichte in welchen: Fache
er wolle, hat doch nur unter der Voraussetzung eine
logische Berechtigung, daß die Individualität des
einzelnen Kunstschülers bis zu einem gewissen Grade
negirt wird, bezw. daß sie sich einfügen lassen muß
in den Rahmen, welchen die künstlerische Persönlichkeit
des Lehrers vorschreibt. An der Berechtigung dieses
Verhältnisses ändert sich dadurch nichts, daß auch
einmal unter den Schülern eine ungewöhnlich starke
und frühreife Individualität sich befinden kann, der
dieses Einfügen beim besten Millen nicht möglich ist.
Das ist ein unglückliches Zusammentreffen, den: durch
kein irgendwie geartetes System vorgebeugt werden
kann. Line verallgemeinernde Richtungskunst wird
stets der Unterbau für eine gereifte Kunstentwickelung
sein müssen. —
Eines der künstlerischen Ideale ustserer Zeit ist
das einer Volkskunst. Ein schönes, ein hohes Ideal,
unter den: inan aber doch nur die Entwickelung eine!'
Kunst meinen kann, welche das Volk in allen ihren
Aeußerungen versteht. Glaubt man wirklich, unser
Volk, die große Masse Derer, die um ihr tägliches
Brot arbeite::, soweit bringe,: können, daß es mit
spürenden: verständniß den Aeußerungen des einzelnen
Künstlerindividuums nachgehen und sich daran er-
freuen kann?
Mo bisher in der Melt eine wirkliche Volks-
kunst eristirte, da präsentirt sie sich als der un-
befangene und in besonders hohen: Grade un-
persönliche Ausdruck des zeitlichen und lokalen Kultur-
zustandes. Und wo ein Merk eines großen und
eigenartigen Künstlers eine allgemeine, volksthümliche
Merthschätzung erlangt hat, da ist immer sein all-
gemein menschlicher Gehalt die Veranlassung dazu
gewesen, und nicht der individuell-künstlerische. Eine
Volkskunst wird immer allgemeiner, niemals indi-
vidualistischer Natur sein können. Darum wird auch
die Schule, das Prinzip des Unpersönlichen, mehr
für die Entwickelung einer Volkskunst thun können,
als einzelne Künstler, und seien sie noch so schöpferisch
und künstlerisch eigenartig. Mer für Volkskunst
etwas thun will, wird sich klar machen müssen, daß
das Interesse des Volkes sich weit mehr auf das
Kunstwerk, als auf den Künstler konzentrirt, und daß
es künstlerische Tendenzen und Individualismen jeder-
zeit einfach ablehnen wird.
Die Kunst des Individualismus wird stets eine
Ausnahmekunst sein. Sie wird entweder auf dem
Gipfel stehen, oder abseits gehen. In beiden Fällen
 
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