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Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 9./​10.1927/​28

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1./2. Novemberheft
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Hildebrandt, Edmund: Die Flora-Büste
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https://doi.org/10.11588/diglit.26239#0104

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daß selbst bei dem N a c h w e i s der „Unechtheit“ der
Flora der für den Ankauf aufgewandte Preis gegenüber
den Millionenwerten, die die Bodesche Tätigkeit und
eigene Gebefreudigkeit im Dienste der Museen dem
Staatsbesitz zugeführt hatte, noch nicht den Wert von
ein paar Groschen repräsentierte.

Doch zur Sache: Das schwerwiegendste Argu-
ment der damaligen Gegner war eine von dem eignen
noch lebenden Sohn jenes englischen Bildhauers und
seinem Freunde öffentlich abgegebene „feierliche Erklä-
rung“, daß sie den alten Lucas vor 600 Jahren an dieser
Flora hätten arbeiten sehen, daß der Sohn selbst am
Tonmodell und der Bemalung mitgeholfen, daß man sich
sogar des Lieferanten des Tonmaterials erinnerte, und
daß vor allem die ganze Arbeit dem Auftrag eines eng-
lischen Kunsthändlers entsprungen sei, der eines Tages
den alten Lucas aufgefordert habe, nach einem damals
dem Leonardo zugeschriebenen Bilde der Flora eine
Wachsbüste herzustellen. Dieses, zuerst im „Burlington
Magazine“ veröffentlichte Dokument ist es, auf das sich
die unversöhnlichen Gegner der Berliner Flora noch
heute berufen.

Ihre weiteren Argumente beziehen sich darauf, daß
es erstens im höchsten Grade unwahrscheinlich sei, daß
ein Werk aus diesem brüchigen, vergänglichen Stoif
sich bis auf unsere Tage erhalten habe, daß zweitens
sich im Inner'n der Florabüste Reste alter Gewandfetzen
befanden, daß drittens eine Schöpfung des großen Leo-
nardo unmöglich bis in diese späten Zeiten hätte unbe-
kannt bleiben können, und daß endlich das Wachs der
Berliner Flora chemisch nachweisbar dasselbe sei wie
das der Lucasarbeiten, die außerdem das in Leonardos
Zeiten unbekannte Walrat enthielte. Diesen, die Mate-
rialfragen betreffenden Ansichten stehen noch gründ-
licher, bis ins Minutiöse durchgeführte Untersuchungen
erster, nicht den Museumskreisen angehöriger Autori-
täten der Technik und Naturwissenschaften entgegen,
die trotz ihrer überzeugenden Argumentierung in objek-
tivster Sachlichkeit zu dem Schluß kommen, daß von
dieser Seite, der Materialfrage, die Angelegenheit
überhaupt niemals entscheidend geklärt werden könne.

Auch unsere Aufgabe kann es daher nicht sein, den
ganzen Streit der Meinungen in seinen verschiedenen
Vertretern und Phasen hier darzulegen. In den Anmer-
kungen findet der nach Einzelheiten verlangende Leser
die wesentlichen Hinweise, die ihm das Nachprüfen der
betreffenden Artikel ermöglichen. Die ganze Anlage
unserer bisherigen Betrachtungen, deneri man nicht
gerade unbedingte Gefolgschaft der Bodeschen Ansich-
ten in Leonardo-Fragen wird nachsagen können, fordert
auch hier von dem Leser jene Selbständigkeit, die der
Verfasser selbst seinerzeit als erste Forderung an sich
stellen mußte.

Und so schließen wir einstweilen diese summari-
schen Vorbemerkungen mit den Worten, die der leiden-
schaftlichste Gegner der Flora an das Ende seiner
Polemik setzte: „M i r s c h e i n t d i e Frage nach
d e r 0 u a 1 i t ä t s o außerordentiich w i c h -

tig zu sein, daß mit ihrer Beantwor-
tung alles übrige steht und fäll t.“

Der Beantwortung dieser Frage ist sowohl der
Fragesteller selbst aus dem Wege gegangen, indem er
mit einem kategorischen Schlußsatz erklärte, er finde
den, für die Lucasarbeiten charakteristischen, „in ihrer
kleinlichen Hübschheit an Porzellanfiguren erinnernden
Stil der Zeit der früheren Queen Victoria“ in der Berli-
ner Flora wieder, als auch Bode selbst, der sich in all
seihen Aufsätzen im wesentlichen auf Ausbreitung des
historischen Materials, die Aufklärung des äußeren
Sachverhalts sowie den Nachweis der Nachahmungen
beschränktc, die das angebliche Werk des Leonardo
schon in der unmittelbaren Umgebung und Nachfolge
des Meisters wie in späteren jahrhunderten gefun-
den hat.

Auf diesem Wege ist natürlich keine Klärung der
Frage zu erwarten. Wenn jemand seine Abstammung
aus einem illustren Hause behauptet, so hat er den
Nachweis auf Grund eines Stammbaums zu führen. Und
die Frage hat hier zu lauten: Gehört die Berli-
ner Flora ihren künstlerischen Quali-
t ä t e n n a c h i n d e n R e i g e n d e r L e o n a r d o -
schen Schöpfungen oder wirkt sie dort
a 1 s Fremdkörper u n d E i n d r i n g 1 i n g ?

Wer unsere Abbildungen (Prof. Hildebrandt repro-
duziert in seinem Leonardo-Werke das gesamte
einschlägige Abbildungsmaterial. Die Redaktion) mit
einem ersten unbefangenen Blick mustert, wird
um die Antwort kaum verlegen sein, und es gehört
schon ein gut Teil freiwilliger oder unfreiwilliger Kurz-
sichtigkeit dazu, um sich gegen die Legitimität dieses
Leonardoschen Geisteskindes angesichts d i e s e r
Umgebung von vornherein zu sträuben.

Auch hier gilt es, v o r der Untersuchung der for-
malen Qualitäten und Argumente den geistigen Gesamt-
charakter des umstrittenen Werkes zu prüfen. Das,
was der berufsmäßige Kenner so gern als nebensäch-
licb, ja als laienhaft dilettantisch anzusehen sich ge-
wöhnt hat, erweist sich oft genug als höchste und letzte
Instanz. Schon der erste Vergleich berührt den Haupt-
kern der ganzen Frage: die seelischen Fundamente, auf
denen diese Arbeit beruht. Jenes' Lächeln der inneren
Glückseligkeit, die Handschrift des Meisters, ist in allen
drei Werken das gleiche. Entscheidend ist nicht das
Lächeln als solches — wir haben ausführlich darüber
gesprochen — sondern die Spontaneität,
N a i v e t ä t u n d Ueberzeugungskraft die-
ser ganz individuellen. in d i e s e r Fassung einzig dem
Leonardo selbst eigenen, von der gesamten Nachfolge
zu unerträglicher Süßlichkeit entstellten psychischen
Nuance. Wer angesichts dicses Eindrucks nocli auf die
Klytia oder gar die Ganova-Imitationen des Lucas hin-
weisen kann, sieht nur die Qberfläche, die Aehnlichkeit
des äußeren formalen Aufbaus, nicht den Kern der
Dinge. Zwischen der ganz naturnahen, von gedämpfter
Sinnlichkeit und tiefster Ehrfurcht vor dcm Objekt er-
füllten Flora und der koketten Atrappe der Klytia be-
steht die gleiche unüberbrückbare Kluft. wie zwischen

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