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Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 9./​10.1927/​28

DOI issue:
1./2. Oktoberheft
DOI article:
Riess, Margot: Die Wohnung: zur Stuttgarter Ausstellung
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.26239#0071

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Die lüobnung

'Buv StuttQavtev Ausffeltung

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jvtat?got Rtess

Ih s yab sehon einmal einen Baustil, bei dem die
Hauptforderung konstruktive Folgerichtigkeit war,
Logik, Ordnung, Systcm. „La passion de l’ordre“ wäre
die Seele des gotischen Stils, hat man einmal gesagt.
Aucli dieser neue Baustil ist in fanatischer Wcise auf
Vernunft, Logik, Berechnung gestellt. Aber während
wir im Falle der mittelalterlichen Baukunst oft geneigt
sind, allzu viel an Mystik in diese Stein gewordene
Mathematik hineinzugeheimnissen, hält uns als Zeit-

ses ausgeklügelte System ist immer dicht daran, in
kühnste Phantastik umzuschlagen!

So ist Le Corbusiers geniales Zentralraumgebilde
fast rnelir als idee eines Raumes zu bewerten denn als
nachahmungsfähiger Wohnungsplan. Immerhin geht
eine Tendenz ganz allgemein zum beweglichen, durch
Aufteilung jeweils veränderlichen Raum, sehr bezeich-
nend fiir den immer mehr durchdringenden Gestaltungs-
trieb einer Generation, die, dem rasenden Großstadt-

Fünf Reihenhäuser von J. J. P-Oud, Rotterdam. Foto Dr. Lossen, Stuttgart-Feuerbach
Die Abbildung ist dem Werk „Bau und Wohnung 1927“, das der Deutsche Werkbund demnächst herausgibt, entnommen

genossen eine typische Scheu leicht davon ab, in dem
was da um uns herum entsteht, errechnet, erklügelt, ge-
messen wird, überhaupt etwas mehr zu erblicken als
bloße Deckung notwendigen Bedarfs. Wenigstens hört
man vielfach gerade aus Kreisen der Fachleute die Mei-
nung, dies alles sei ja schön und gut, praktisch, brauch-
bar, billig, wasserdicht usw., nur komme man hier nicht
mit der Prätension einer neuen „Baugesinnung“. Wer
die Weißenhofsiedlung in Stuttgart besuclit hat, die zum
ersten Male die Möglichkeit in üeutschland bietet,
Wohnbauten der Gegenwart (oder der Zukunft?) im
ausgedehnten Komplex auf sich wirken zu lassen, der
wird auch bei größter Einsicht in die Problematik des
Ganzen docli die Ueberzeugung mit sich genommen
haben, daß hier mehr am Wcrkc ist als die Theorie eines
Bau- und Sparvereins. Diese kahlen lichten Fassaden,
kühl und abweisend in sich ruhenden flachgedeckten
Kuben rcden dcutlich von einem — wcnn auch unbe-
wußt wirkenden — neuen Formethos. Freilich geht
der Wille in erster Linie auf Rationalisierung, aber die-

tempo entwachsend, Räumliches unwillkürlich immer
mclir in Zeitliches, Rhythmisch-Dynamisches umzu-
setzen strebt. Auch die großen Farbflächen der Wände
wirken stark rhythmisierend.

Ueberhaupt gehört die neue Art der Verwendung
der Farbe zu den fruchtbarsten Kapiteln der neuen
Wohnungsproblematik. „Architektur ohne Farbe ist
blind“ — wer hätte dies bis vor kurzcm noch auszu-
sprechen gewagt? Die Farbe dient jetzt nicht nur oft
dazu, den vorher üblichen Fassadenschmuck zu er-
setzen, sie übernimmt aucli kraft ihrer neugefühlten
Eingenschaft, Spannung und Dynamik zu erzeugen, die
Rolle, die vorher schwerfällige architektonische Glie-
der spielten: kontrastierende Farbflächen der Wände,
kontrastierendc Wände in einem und demselben Raume
bewirken in einer erstaunlichen nur an Ort und Stclle
erlebbaren Weise eine Verdeutlichung des konstruk-
tiven Sinnes eines Raumes, körperlich-'mathematische
Eindringlichkeit. Von hier aus ist auch anr chesten die
extreme Einstellung begreiflich, die das Einzelkunst-

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