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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 9./​10.1927/​28

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1./2. Februarheft
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Dolbin, Benedikt F.: Der Karikaturist und seine Art zu sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26239#0254

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was so entsteht, hat oft graphischen Keiz, entbehrt
jedoch der Fähigkeit zur Weiterentwicklung, entbchrt
also des wesentlichen Merkmals eines kiinstlerischen
Themas.

Die Aufgabe des karikierenden Ktinstlers vor dem
menschlichen Antlitz, vor dcr menschlichen Gestalt ist
eine vielfache: er geißelt Gesellschaft und Sitte
(Hogartli), er kämpft für eine große Idee (Goya: Los
desastros de la guerra), er hat eine politische Plattform
(Caran d’Ache, Leandre), er ist Zeitsatiriker mit sozia-
lem Einschlag (T. T. Heine, Gulbransson, Daumier), er
kämpft gegen eine Klasse und für einc Klasse (George
Grosz, Zilie), oder er erfüllt eine psychologische Auf-
gabe: etwa die des Entlarvers der Repräsentanten
einer Kultur.

Von dem Weg dieser zuletzt angeführten Spezies
sei besonders gesprochen. Vor allem deshalb, weil es
sich hier für mich weniger um Kritik als um Bekenntnis
handelt. Daher erhebt das in der Folge Gesagte keiner-
lei Anspruch auf Objektivität. Um die Fasern bloßzu-
legen, die mich zum Fanatiker des Stifts, zum Besesse-
nen von Anmut u n d Scheusäligkeit alles Lebendigen
gemacht haben, muß ich subjektiv bis zur Egozentrik
werden. E i n e Erfahrung und e i n e Eingebung sind
die Erzeuger meines karikaturistischen Gestaltungs-
prinzips!

Die Erfahrung, daß eine gute Photographie
beinahe ebenso Seltenheitswert hat wie eine gute Zeich-
nung, führte zuin Bewußtwerden des Wunders, daß von
einem Menschenantlitz auf unser Auge Wirkungen aus-

gehen, die keineswegs auf mechanischem Wege fest-
zuhalten sind. Daß Liebe blind macht (aber auch der
Haß!), ist mehr Tatsache als Symbol. Paradoxial ge-
faßt: ein Mann, der eine gute Photographie, eine vor-
zügliche Zeichnung seiner Geliebten e r k e n n t, hat
aufgeliört sie zu lieben. Die Menschen und Dinge, mit
denen man lebt, verlieren ihr Antlitz, üben nur mehr
funktionellen Reiz aus, sind mehr Begriff als Form.
Jede Amtstracht lenkt von der Differenzierung deren
Träger ab, die Achtung vor deren Symbolgehalt macht
unser kritisches Auge blind. Die karikaturistische
Tätigkeit ist nur im Stadium absoluter Ueberlegenheit
ersprießlich. Oft ist eine zu Unrecht usurpierte Ueber-
legenheit bereits imstande, zum Karikieren fähig zu
machen. Allein die tiefer schürfende, Kritik übende,
entlarvende Karikatur steht nur dem zu Gebote, dessen
Ueberlegenheitsgefühi auf vielseitigen Fähigkeiten
(nicht auf vielseitigem Können!) beruht. Diese
Parallelität mit kritischer Tätigkeit weist auf den
Umfang der karikaturistischen Gestaltungsmöglichkeit
hin: da Tadel und Lob, Verneinung und Bejahung
solcher Art möglich werden, umfaßt der Begriff Kari-
katur eigentlich das gesamte Kunstschaffen, soweit es
sich nicht um Formprobleme handelt. Jedes Porträt,
jedes Naturabbild muß Karikatur (karikare = über-
laden) sein, falls es den Anspruch erhebt, zur Kategorie
der Kunstwerke zu zählen. Denn jedes Angeschaute ist
im künstlerischen Sinn chaotisch; erst die Ordnung, die
der Künstler in die angeschaute unendliche Vielheit

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