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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 27. April)
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1²⁰

ſchien ihr gelähmt. Vergebens ſuchte ſie nach Worten,
während ihre Hand den Teppich des Tiſches zuſamenknit-
terte — in ihrem jungen empfänglichen Herzen loderte ein
Vulkan. ö
Da trat Heinrich zum Flügel und griff einige Akkorde.
Marie hob erſchrocken ihre Augen — und faſt athemlos
ſtand ſie, als er, den Refrain ſeines Liedes wiederholend,
ſang: ö
Verzage nicht, die Welt iſt groß —
Ergreif' den Wanderſtab;
Zum Sterben wird Dir überall
Ein einſam ſtilles Grab.
Jetzt konnte ſie ſich nicht länger mehr halten, mit All-
gewalt hatte des Liedes Anklang die Bande geſprengt, die
ſie gefangen hielten, ſie ſtürzte auf Heinrich zu, der ihr
entgegentrat, ſchloß ihn ihre Arme und rief: „Zerbrich
den Wanderſtab — ich bin fortan Deine Welt!“
Ein lautes Vivatrufen der Umſtehenden übertäubte
Heinrichs frohe Entgegnung bei der erſten bräutlichen Um-
armung und mit ſtillem Entzücken weideten ſich die Glück-
wünſchenden an den verklärten Zügen der Wonneberauſchten.

Von Dreien die Schönſte.

Etwa vor im Ganzen ſechzig Jahren verſtarb in Ober-
Ungern ein alter Titular-Gerichtstafelbeiſitzender, der durch
ein höchſt ſonderbares Mittel ſich die Verſicherung ſchuf,
daß man nach ſeinem Ableben noch lange ſeiner gedenke.
Er hatte drei Nichten: Hermine, Pepi und Agnes, die,
als er noch lebte, berühmte Schönheiten waren und weit
umher im Lande in dieſem Rufe ſtanden.
Die drei ſchönen Fräulein beſuchten gar oft ihren On-
kel und das Schlußziel aller Beſuche war: „Nicht wahr,
Onkelchen, wenn Sie 'mal ſterben, vermachen Sie mir das
zweiſtockige Haus?“

„Ja, Dir, mein Mädchen, Dir!“ pflegte der Alte et

ner Jeden von den Dreien zu ſagen und er liebte es ſehr,
frugen ſie ihn darüber immer wieder. Es ärgerte ihn
nicht einmal ſolch' ſelbſtſüchtige Frage, im Gegentheil. Er
konnte es beinahe kaum erwarten, zu ſterben, um durch
ſeinen Tod einen Spaß auszuführen, über den er nach er-
folgtem Ableben wohl herzlich zu lachen gedachte.
Als man nämlich des alten Herrn Teſtament eröffnete,
ſtand darin: „Mein zweiſtöckiges Haus aber vermache ich
von meinen drei Nichten der Schönſten!“ ö
Beliebe man nun Teſtamentsexecutor zu ſein!
Aus dem Urtheile des Paris ward ein zehnjähriger
Krieg und dabei hatten ſich drei Göttinnen doch blos ei-
nes Apfels wegen verzankt; nun erſt wäre ein zweiſtock-
hohes Haus in Frage geſtanden!
Es war eine gefährliche Rechtsfrage: alſo welche von
den Dreien iſt die Schönſte?
Bedürfte es der Zeugen, ſo könnte Jede Hunderte von
Anbetern ſtellen, von Bewerbern, Tänzern, Fenſterprome-
nadlern, Anſeufzern und dazu noch verſchiedene Garni-
ſonszierden. ö
Bedurfte es eines Augenſcheins. Wer hätte Herminens
ſchlanken Wuchs geläugnet, ihre rabenſchwarzen Flechten,

nicht natürliche ſei.

ihre blitzenden Augen? Wer dagegen der ſchönen Joſe-
fine, oder zärtlicher geſagt, der Pepi roſiges Antlitz, ihre
ſeidenen blonden Haarlocken, ihre winzigen Händchen? oder
endlich der Agnes natürlich geringelte, kaſtanienbraune
Haarfluth, die Liebesgrübchen ihrer Wangen, die Perlen-—
reihe von Zähnen, und das bezaubernde Lächeln? Wahr-
lich, das mußte man zugeben, daß Jede von den Dreien
ſchön, ja ſehr, außerordentlich ſchön ſei. Aber der Advo-
katen Sache war es, durchzukriegen, welche die Aller-
ſchönſte ſei.
Es begann alſo der trojaniſche Krieg zum zweitenmale
— mit Tinte und Papier. Was aber war das Beweis-
mittel? Was hatte der Advokat zu Gunſten ſeines Schütz-
lings zu allegiren? Das durchaus nicht, daß ſeine Clien-
tin derart und ſo ſchön ſei, ihr alſo die Erbſchaft gebühre,
weil dieſe Thatſache augenſcheinlich zu ſehen war, ſondern
umgekehrt, welche Fehler ſich an den Schönheiten der bei-
den Prätendentinnen vorfinden laſſen.
Man kann ſich dieſen köſtlichen Proceß vorſtellen, der
daraus entſtand! Wie gelangten dabei einzeln und gegen-
ſeitig die allverborgendſten Toilettengeheimniſſe an's Son-
nenlicht! Als der Advokat Herminen's von der Pepi
ſagte, daß ſie ſich mit Carmin bemale, was dann in der
Gegenwart von Kunſtoerſtändigen der Ankläger perſönlich
gegentheilig erweiſen mußte, als es zu Tage kam, daß die
Roſenfarbe ihres Antlitzes natürlich und nicht blos entlie-
hen war. Um Vieles gefahrdrohender ſchien dann die An-
klage, Herminen's Wuchs ſei etwas ſchief gerathen und nur
das Mieder halte ihn gerade, während Agnes verdächtigt
wurde, daß ſie auf dem rechten Fuße hinke, weßhalb auch
der eine ihrer Schuhe innen eine Einlage habe, ſowie daß
ihre — wie man jetzt ſagt, „Chignon“ eine künſtliche und
Zu all' dem kamen noch die Kunſt-
griffe advokatiſcher Dialektik; z. B. gerade in dem Mo-
ment auf Urtheil zu dringen, als Pepi's Wange durch
Rheumatismus aufgedunſen war, derart, daß ſie kaum das
Mündchen öffnen konnte, oder, da Hermine vor Schnupfen
nicht zu ſprechen vermochte. Dann folgten die gegen die
geiſtigen Schönheiten gerichteten Angriffe. Die Eine ſei
pikant, die Andere ſekant, die Dritte nicht galant; die wi-
derſpenſtig, jene giftig und was ſchadet der Schönheit mehr
als Trotz' und böſes Gemüth? Zeugen dafür waren:
„Schazi, Katie, Nina, Panni, Juliſcha“ und noch ſonſt
allerlei davongejagte Dienſtmädchen, Köchinnen und Zofen,
die bewieſen, daß die gegneriſche Clientinnen Tags zuvor
über 18 Stunden lang ſehr häßlich ſeien, während ſie
nämlich daheim bleiben und die Dienerſchaft cujoniren, daß
es zu ſolcher Zeit Abſcheu errege, ſie anzublicken; dagegen
Betti und Netti, die von der Angeklagten Begünſtigten,
darauf ſchworen, die vertheidigte Partei ſei auch daheim
pure liebenswürdige Schönheit.
Solcher Art floß dieſer Proceß ſechs Jahre, ohne auch
nur ein Haar weiter zu rücken, ausgenommen, daß hin
und wieder ein ausgezogener Zahn in der Richter Waag-
ſchale fiel, auf kurze Zeit dieſe etwas hinabziehend. Da
riethen dann endlich die Richter ſelbſt den proceſſirenden
Theilen, es ſei am beſten, wenn ſie in hübſcher Freund-
ſchaft unter ſich Frieden ſchlöſſen. ö

Frommer Gedanke! Man kann den Engländern ra-
 
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