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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
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Nr. 46.

Sanſtag den 8. Juni 1872.

5. Jahrg.

Eccheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr.

und ber den Trägern.

Einzelne Nummer à 2 kr.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Man abonnirt in der Druckerei, daſſe 4

Ein Irrlicht.
Von S. Junghans.
(Fortſetzung.)

„Ach, er will ſich jetzt nicht fangen laſſen, mag er flie-
Und Du haſt mich auch noch gar nicht begrüßt,
grämlicher Menſch.“ Ihr Mund befand ſich pflötzlich in
nächſter Nähe des ſeinen und einen Augenblick ſpäter hatte
ſie ihn auf den Divan niedergezogen und ſaß auf ſeinen
Knieen.
„Liebſt Du mich, Willa?“ fragte er viötzl ch, ohne auf
ihre Liebkoſungen zu achten.
„Wie kannſt Du fragen!
„Mich allein?“
„Laß ſehen!“ und ſie ſchien ſich zu befinnen. „Ja,
gezenwärtig Dich allein“, ſagte ſie dann mit einem koket-
ten Blick.
„Willa, Du quälſt mich, Du biſt boshaft.“
„Ich kann allerdings recht boshaft ſein, Dir aber habe
ich das noch nie gezeigt. Wie kommſt Du auf dieſe Fra-
gen, lieber Ofre
„Der Offizier eben —“
„Ah, der Llcutenant —“ ſagte ſie gedehnt und warf
den Kopf zurück mit einer unnachahmlichen Geberde der
Gleichgültigkeit. „Biſt Du eiferſüchtig auf ihn? Wirk-
lich, Du machſt Dir überflüſſige Mühe. — Er iſt ein al-
ter Bekannter von miür: als ich in C. zuerſt auftrat —
ich war neun Jahre alt — als Amorette, mit Gazeflü-
geln, an zwei Drähten ſchwebend, da war er im Theater;
er befand ſich damals auf der Kadettenſchule. Seitdem
On wir uns. Es iſt eine Jugendfreundſchaft,
u2
Sie ſah ihn lachend an, ihre Augen waren ſo ehrlich.
Sie iſt im Herzen unverdorben, mußte er immer denken.
„Willa“, ſagte er nach einer Pauſe e, „ich möchte ernſtlich
mit Dir reden, willſt Du mich anhören?“
„Mit dem größten Vergnügen. Aber zu einem diplo-
matiſchen Geſpräche paßt wohl mein Platz hier nicht. Warte,
auch ich kann feierlich ausſehen.“ Sie glitt von ſeinen
Knieen herab und ſetzte ſich auf einen Stuhl ihm gegen-
über, aufrecht, die Hände im Schooß zuſammengelegt, wie
ein Kind im Eramen. „Nun ſprich“, ſagte ſie.
„Es iſt etwas Trauriges, das ich Dir mitzutheilen
habe“, begann er, „aber wir wollen uns ja für's Leben
vereinigen, wollen Freud' und Leid
wahr, mein Liebling?“

gen.

weißt

d zuſammentragen, nicht

„Gewiß.“ Und das klang, als ob das Kind ſeine aus-
wendig gelernte Lektion herſagte.
Er erzählte nun von ſeiner Mutter; in den ſchonend-
ſten Ausdrücken deutete er an, aus welchen Gründen ſie
ſich der Verbindung widerſetze. Willa lachte, aber nicht
eben gutmüthig, als ſie ſagte: „Das ſind die ſpießbür-
gerlichen Anſichten, vor denen ich Dich gewarnt habe.
Dieſe tugendhaften Frauen verachten unſereinen; ſind ſie
beſſer als wir, ſie, die nie etwas erlebt haben, das ſich
nicht zwif ſchen der Küche und Schlafſtube abſpielte, daß
ſie eben ohne Weiteres ein armes Menſchenkind von ihrer
Thür weiſen dürfen, nur weil es früh in das Leben hin-
ausgeſchlendert worden it und nun nicht unter den Flü-
gein einer mütterlichen Gluckhenne hervorptept?“
Er ſah ihr verwundert in's Geſicht. „Ich dachte nicht,
daß Du dies ſo ernſt nehmen würdeß, Willa“, ſagte er.
„So, meinſt Du, ich habe keinen Stolz, kein Gefühl
für Schande? Oh, ich haſſe dieſe ehrbare alte Frau, die
Dich am liebſten ewig am Gängelbande halten möchte!“
Oier brach die Kleine in leidenſchaftliche Thränen aus.
Alsbald lag Richard ihr zu Füßen, küßte ihre Hände und
ihre naſſen Wangen, und dachte ſo augenſcheinlich an ſie,
und an ſie allein, daß ſie ſich zufrieden gab. Sie laͤchte
hell und riefͤ: „Wozu auch Thränen! was kümmern mich
alle Mütter in der Welt! Du gehörſt mir doch, Richard!“
und dabei glänzten ihre weißen Zähne und ihre Augen
funkelten.
Richard war gewöhnt an dieſe plötzlichen Wechſel in
den Launen des wilden Mädchens, diesmal aber berührte
ihn der raſche Uebergang peinlich. Er hatte noch von ſei-
nne Mutter ſprechen wollen, vielleicht ließ ſich eine Ver-
ſöhnung anbahnen — wußte er doch, wie ſehr die alte
Fran ihn tebte. Alle ſeine Vorſchläge aber nahm Willa
ſehr gleichgültig auf; ſie ſprang ſogar alsbald wieder in
in die Höhe und ſetzte die vorhin unterbrochene Jagd auf
den Kanartenvogel fort. Richard ſah, daß ſeine Angebe-
tete ihn heute nicht anhören wollte. „Du biſt ein Kind,
Willa“, ſagte er endlich zärtlich, aber mit einem Seufzer,
als er ſich endlich anſchickte, Abſchied zu nehmen. Sie
lachte wieder; das war auch zu lächerlich, ſie ein Kind!
ſie wußte es beſſer. „Wohin willſt Du ſchon, Richard?“
„In's Geſchäft, Liebchen.
„In's Geſchäft? Und ich bin frei heute Morgen. Laß

uns zu Veroni gehen und frühſtücken; es gibt herrliche

Chokolade dort — Du haſt es mir verſprochen, weißt Du.“
Es iſt mir unmöglich heute. Ich bin auf eine halbe
Stunde fortgegangen, um Dir guten Morgen zu ſagen.
Der erſte Buchhalter ſah ſehr ungnädig aus und rief mir
 
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