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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 71 - Nr. 78 (4. September - 28. September)
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auch ſprechen, oder mir durch Marie Ihre traurige
Lage ſchildern laſſen können. Darin haben Sie ge-
fehlt, Reiner.“
Der Schullehrer richtete ſich empor.
„Auch der Arme hat ſeinen Stolz, gnädiger Herr,“

ſagte er, „und hält es für eine Schande zu betteln,
ſo lange er ſich noch ſelbſt zu ernähren vermag. Und

das konnte ich bis jetzt und werde verſuchen, es fer-
ner zu können, bis die Kataſtrophe eintritt, die mich
zwingt, für immer meine Schulſtube zu ſchließen. Nein,
Herr Baron, für mich begehre ich Nichts. Wollen Sie
aber, wenn Ihnen die Todtenglocken verkünden, daß
es einen dürftigen Schulmeiſter weniger in der Welt
gibt, ſich meines verlaſſenen Kindes annehmen und
Marie ſo lange eine Freiſtatt in Ihrem Schloſſe ver-
gönnen, bis ſie ſich ſelbſt in der Welt forthelfen kann,
dann werden keine bangen Sorgen meine Sterbeſtunde
verbittern.“ ö
„Den Wunſch, den Sie mir an's Herz gelegt, Rei-
ner, werde ich mit Freuden erfüllen,“ entgegnete Herr
von Handorf. „Habe ich doch die kleine Marie von
dem Augenblicke an, wo ich ſie am Sarge meines Kin-
des ſo bitterlich weinen ſah, herzlich liebgewonnen. Für
ihre Zukunft alſo ſorgen Sie nicht mehr. Aber mir
geſtatten Sie, das zu thun, was ich für meine Pflicht
halte, nämlich Ihre Lebenslage ſo weit zu verbeſſern,
wie es in der Macht der Wohlhabenheit liegt. Be-
trachten Sie mich von jetzt an wie einen Freund, den
Ihnen die Vorſehung noch zur rechten Zeit geſandt.
Dem Freunde aber, den Gott mit Glücksgütern ge-
ſegnet, ſteht es zu, dem armen Freunde die Bürden
des Lebens erleichtern zu helfen.“ ö
Wenn Reiner auch wiederholt äußerte, er brauche
weder die Hülfe eines Arztes, nochsfonſtigen Beiſtand
für die nur noch kurze Zeit ſeines Daſeins, Herr von
Handorf widerſprach dem kranken Manne zwar nicht
mehr, war aber doch im Innern entſchloſſen, dem ar-
men Lehrer wider deſſen Willen wohlzuthun.
Marie war indeſſen wieder zu Hauſe angelangt.
Sie präſentirte dem Freiherrn die geholte Milch in
einem reinlichen Glaſe und freute ſich, als derſelbe
ſie mit ſichtbarem Wohlgefallen trank.
Bemerkend, daß der krankhafte Zuſtand Reiner's
an dieſem Tage, zumal da ſein Huſten nach verſchie-
denen Pauſen mit erneueter Heftigkeit wiederkeh te,
demſelben nicht viel zu ſprechen erlaubte, beſchloß der
alte Herr ſeinen Beſuch abzubrechen.

Nachdem er ihm noch einigen Troſt zugeſprochen

und hinzugefügt, er werde bald wieder bei ihm vor-
ſprechen, entfernte er ſich. ö
Reiner wollte ihm das Geleite geben. Er
es ab, winkle dagegen mit den Augen Marie,
folgen, was dieſe bereitwilligſt that. —
Als der Freiherr mit dem Kinde in der Hausthür

ſtand, wo Reiner ſie nicht mehr zu hören vermochte,
nahm er liebreich die Hand der Kleinen in ſeine Linke,

und ſtreichelte mit der Rechten ihre Wange.
„Könnteſt Du mich wohl recht, recht lieb gewin-
nen, Marie?“ fragte er ſanft. ö

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Ihre großen dunklen Augen ſtrahlten eine bejahende
Antwort und die roſigen Lippen beſtätigten ſie mit den
Worten: ö
„Ich hatte Sie ſchon lieb, gnädiger Herr, ehe Sie
in unſere Nähe kamen. Wie konnte es auch anders
ſein? Bertha, die jetzt im Himmel iſt, erzählte mir
hundertmal, wie lieb und gut ihr alter Herr Papa

ſri. Sie wollte mich auch oft mit ins Schloß nehmen.

Aber ich fürchtete mich — die — gnädige Frau — ſo
erzählen die Leute — ſoll ſo ſtrenge, ſo ſtolz ſein. Sie
hätte mir vielleicht die Thür gewieſen und Bertha aus-
gezankt, und das würde — ö
Der Greis fiel dem Kinde ſchnell in's Wort.
„Laſſen wir die Vergangenheit ruhen“, ſagte er.
„In Zukunft ſollſt Du Dich nicht mehr zu fürchten
brauchen, auf's Schloß zu kommen. Ich werde Sorge
tragen, daß meine Gemahlin Dich nicht unfreundlich
empfängt. Es iſt ſogar nöthig, daß Du kommſt. Dein
armer Vater ſcheint ernſtlich, wenn auch nicht gefähr-
lich, krank zu ſein. Ich werde ihm den Arzt ſchicken.

Du ſollſt mir dann über den Zuſtand des Vaters täg-

lich Bericht erſtatten. Jetzt nimm' dieſes hier. Ich
habe es zu ſeiner Pflege beſtimmt.“ ö
Er hatte in die Taſche gegriffen und eine reichge-
füllte Börſe hervorgezogen. Er drückte ſie der Kleinen
in die Hand und ging dann, bevor Marie ihm zu dan-
ken vermochte, eiligſt dabon. ö
Herr von Handorf hielt ſelbſtverſtändlich Wort.
Noch denſelben Tag wurde von ihm ein Eilbote an
ſeinen im nächſten Städtchen wohnenden Hausarzt ab-
geſandt. Am nächſten Tage erſchien derſelbe und be-
gab ſich ſogleich im Auf trag des Freiherrn zu dem
Schullehrer. ö
Als er auf's Schloß zurückkehrte, ſtattete er Herrn
von Handorf den traurigen Bericht ab, daß Reiner's
Bruſtkrankheit ſchon in ein ziemlich hohes Stadium ge-
treten, derſelbe aber wohl noch ein Jahr, vermittelſt
ſorgſamer Pflege und ſtärkender Mittel, dem Leben zu
erhalten ſei. ö
Daß dieſe Mittheilung den Greis, indem er an den

Schmerz dachte, den Marie bei dem Verluſte ihres Va-

ters empfinden würde, in hohem Grade betrübte, läßt
ſich denken. Indeſſen, es ſtand ja nicht in ſeiner Macht,
es zu ändern. ö
„Geſchehe denn der Wille des Himmels“, ſagte er.
„Ich will wenigſtens die Freundſchaft, die ich für den
braven Mann gefaßt habe, auch durch die That be-
weiſen.“ — ö
Der Arzt wurde angewieſen, Reiner täglich zu be-
ſuchen. Für kräftige Speiſen mußte die herrſchaftliche

Küche ſorgen und der wohlgefüllte Keller ſtärkende Weine
ſür den Kranken liefern. So oft die Verwaltung ſei-

ner Güter Herrn von Handorf erlaubte, in unmittel-
barer Nähe des Schulmeiſters ein Paar Stunden zu

verbringen, ſo geſchah es. Marie aber machte von der

ihrem Gönner ertheilten Erlaubniß Gebrauch und ſuchte
ihn im Schloſſe auf. Dazzie den Weg zu ſeinen Zim-
mern wußte, ſo kam ſie der ſtolzen gnädigen Frau
 
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