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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44618#0336

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332

Die Nagglmaiern.

„An eine ru-
hige Familie
zu vermie-
then.“ Wie oft
begegnet uns
nit die Bemer-
kung unner de
Loſchie-Anzei-
ge in d'r Zei-
tung, Leitcher.
Was mit g'ſagt
ſein ſoll, weeß
ma ſo ziemlich!
D'r betreffen-
de Herr Haus-
eigenthimmer
ſchämt ſich
norr, 's Kind
beim rechte
Name zu nen-
ne! Dann um
die Kinner =
handlt ſich's,
wann eener ſo ⸗⸗
ſein Loſchie an.
zeigt, deſſ'r zu
vermiethe hott. —— —
Unner ſo'ere ruhige Familie, die d'r Herr vum Haus
ſucht, verſchteht'r norr e Familie, die ke Kinner

hott. Draurig, awer wohr, Leitcher! Daß d'r Herr

un die Madam aah emool Kinner ware, die Schbek-
takl gemacht, dodrann ſcheine die glickliche Hausbeſitzer
nit mehr zu denke. Sie denke nit dran, wie weh's
ſeiner Zeit ihre Eltern gedhan hawe muß, wann ſe
e Loſchie g'ſucht, un do un dort vumme hartherzige
Hauspaſcha wege de Kinner, die ſie ſellemool ware,
abgewiſſe worre ſinn! — Die Dewies: „An eine ru-
hige Familiezſt zu vermiethen“ ſcheint awer anfangs
ſo bei uns einzureiße, daß ſe, um uns vor Schade zu
bewahre, vum volkswerthſchaftliche un bollittiſche Schtand-
punkt aus beleicht un gegeißelt werre muß. Wenig-
ſchtens finn ich folgende Artikl in d'r Zeitung, den ich
mit Vergniege unnerſchreib:

„An eine ruhige Familie iſt zu vermiethen.“

Wenn Einſender dieſen Satz lieſt, ſo überkommt ihn
immer eine gewiſſe deutſche Entrüſtung. Er hat zwar
ſchon gelernt, daß Ruhe jedes Bürgers erſte Pflicht iſt;
körperliche und geiſtige, noch mehr geiſtliche Ruhe

iſt anerkanntermaßen das beſte Mittel zum Dickwerden!

Das kann ſich aber doch nur auf die Familienhäupter
erſtrecken. Die Eigenart des Kindes iſt aber Beweg-
lichkeit: Lachen, Stampfen, Springen, Leben und Luſt
in allen Gliedern. Eine ruhige Familie iſt demnach
eine ſolche, in welcher ſich entweder keine Kinder, was
am bevorzugteſten iſt, oder höchſtens 1—2 befinden.
Sind das ſolche, die ſtupid in einer Ecke ſitzen bleiben,
ſo iſt das beſſer, und wird lieber geſehen, als wenn

ſie Entdeckungsreiſen in die Welt ihrer Umgebung an-
ſtellen. Die Kinder in der Stadt entbehren ohnehin
ſo viel; Luft und Sonnenſchein ſind ihnen ſpärlich zu-
gemeſſen. Jetzt ſollen ſie auch noch ruhig, — oder,
was für ihre Eltern noch beſſer iſt, wenn ſie unter
Dach kommen wollen — ſie ſollen gar nicht da ſein.
In dieſer Feindſchaft gegen Kinder und ihr fröhliches
Rühren liegt ein ganz undeutſcher Zug, eine Losſagung
von den Anſichten unſerer Altvordern. Dieſe ſagten:
viel Kinder — viel Vaterunſer. Wird es dem Vater
in unſerer Zeit überhaupt ſchwer, ſeine Kinder zu er-
nähren, zu kleiden, zu braven Menſchen zu erziehen, ſo
ſoll er noch zum Ueberfluß Mühe und Noth haben, ſie
in's Trockene zu bringen. Menſchen mit liebreichen
Herzen ſollten ihre helle Freude daran haben, ſo ein
Kinderhäufchen um ſich zu ſehen. Sie könnten ſich da-
bei ihrer eigenen Jugend erinnern und an dem fröh-
lichen Reigen wieder verjüngen. Daß ſolche kleine
Weltbürger ſchon Stiegen oder Häuſer eingeworfen hät-
ten, darüber hat noch kein Unglücksblatt berichtet. —
Aber unbequem iſt's. Ganz recht. Nur Schade, daß
der reiche Hausbeſitzer, die geputzte Frau vergeſſen, wie
der Johann und die Johanna, die als Kutſcher und
Hausmagd dienen und ihrem Klingeln gehorchen, einſt
ein Hänschen und ein Hannchen geweſen ſind. — Be-
trachten wir dieſen Gegenſtand aber von einem höhe-
ren Geſichts punkt: vom volkswirthſchaftlichen und na-
tionalen! Was führt der Volkswirth als Zeichen des
Rückgangs und Verfalls der franzöſiſchen Nation zum
Beweiſe an? Daß die Zahl der Greiſe, der Männer
und Frauen mittleren Alters weit überwiege gegen die
Prozentzahl der Jugend. Die Bevölkerungszahl iſt alſo
dort im ſtetigen Rückgange begriffen. Du glückliches
Frankreich haſt viele „ruhige Familien“! Dafür kannſt
du auch hald kaum mehr deine Ernte einbringen. Das
unpraktiſche Deutſchland lebte bis heute in ſeiner Ju-
gend. Das gealterte Frankreich wäre nicht beſiegt wor-
den, wenn wir nicht eine lebensfriſche, zahlreiche Ju-
gend auf die Schlachtfelder hätten ſenden können. Die
Jünglinge, welche die Zuaven, Turkos und derlei Ge-
ſindel von unſeren Grenzen abſchlugen, gehörten „un-
ruhigen“ deutſchen Familien, einem Volksheere an, das
ſeine reichen Kräfte in den Dienſt Derer ſtellte, die
ruhig zu Hauſe ſaßen und ſich „ruhige Familien“ zur
Miethe bedingen. (Woher wollen aber auch die Indu-
ſtriellen, die Fabrikanten, die Gewerbsmeiſter, die jetzt
ſchon und fortwährend über Mangel an Arbeitskräften
klagen und welchen die vielen Kinder ihrer Miethsleute
zuwider ſind, ihre Arbeiter hernehmen, wenn nach ihren
Begriffen die Kinder nicht ſein ſollen?) Wer uns dem
Franzoſenthum näher bringen, deutſches Familienleben
in Verruf erklären, deutſche Anfchauung vernichten und
den Arbeiterſtand von der Erde wegſchaffen will, der
inſerire künftig: „An eine kinderloſe Familie iſt zu ver-
miethen!“ Wer ſich zum Gegentheil bekennt, ſchäme ſich
deſſen, öffentlich ſich von dem loszuſagen, was den Vor-
zug des deutſchen Lebens, die Wärme des deutſchen
Gemüths und fittlichen Werth deſſelben ansmacht.

Druck und Verlag von G. Geiſendörfer
 
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