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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 79 - No. 86 (4. October - 28. October)
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— 323 —

ähnlich wie bei der Muskel⸗Arbeit ſich bilden. Iſt nun
eine Anſtrengung eine gewiſſe Zeit hindurch fortgeſetzt
worden, ſo häufen ſich dieſe Produkte der Thätigkeit an
in der Weiſe, daß unmittelbar mit dem Ablaufe derſelben
eine ſo plötzliche Sauerſtoff⸗Entleerung ſtattfinden kann,
daß mit einem Male der Schlaf eintritt. Ich erinnere
an die in England beobachteten Erſcheinungen. Nicht
nur Capitän Webb verfiel, unmittelbar nachdem er den
Canal durchſchwommen und das Land erreicht hatte, ſo-
fort in tiefen Schlaf, ſondern auch bei Schnellläufern
hatte man, wenn ſie ihr Ziel erreicht hatten, Aehnliches
beobachtet. In dieſen Fällen haben ſich die Ermüdungs-
ſtoffe ſo reichlich gebildet, daß ſie mit großer Geſchwin-
digkeit dem Gehirn ſeinen Sauerſtoff entzogen. ö
Nun kommt es hauptſächlich darauf an, zu zeigen,
daß es ſich nicht blos um eine ſolche Ermüdung handelt,
ſondern um eine ſolche Steigerung der Ermüdung, daß
der Schlaf eintritt. Auch hier hat Johann Reincke das
Verdienſt, feſtgeſtellt zu haben, daß man durch Injection
derjenigen Körper, die ſich bei ermüdenden Körpern bil-
den, in einem nicht ermüdeten Muskel⸗Ermüdung erzeugen
kann. Wird dieſe eingeführte Subſtanz wieder entfernt,
ſo kann der Muskel wieder arbeiten. Auch bei uns wird
dieſe Ermüdung dadurch herbeigeführt, daß dieſe Stoffe
einige Zeit im Muskel ſich anhäufen, und es fragt ſich,
ob wir nicht am intacten Organismus etwas Aehnliches
herbeiführen können.
Wenn man bedenkt, wie ungemein ſchnell leicht dif-
fuſible Gifte, wenn in den Magen gelangt, ihre Wirkung

auf das Gehirn üben, ſo möchte man meinen, daß auch

Ermüdnngsſtoffe, in den Magen eingeführt,
ſchnell auf das Gehirn wirken können. Ich habe hiefür

an Thieren zahlreiche Verſuche angeſtellt und war über⸗.

raſcht vom Erfolge. Die Erſcheinungen ſind genau die-
ſelben, wie wenn die Thiere von ſelbſt einſchliefen. Die
Reflex⸗Thätigkeit bleibt vollkommen erhalten wie beim
natürlichen Schlafe, die Reſpiration iſt ein wenig ver-
langſamt, die Temperatur meiſt etwas vermindert, der
Puls ein wenig verlangſamt. Wenn man die Thiere
weckt, ſo benehmen ſie ſich ganz ſo, wie wenn man ſie
aus dem natürlichen Schlafe weckte. Man muß bei
dieſen überaus mühſeligen Verſuchen ſehr ſorgfältig ſein.
Man muß dafür forgen, daß die Beleuchtung möglichſt
ſchwach, daß keine Geräuſche in der Nähe ſind, kurz
Fernhaltung der Reize iſt die Grundbedingung. Aber
wenn ich auch alle dieſe Fehlerquellen in Betracht ziehe,
ſo bleibt doch das Facit, daß in erſtaunlich vielen Fällen
die verſchiedenartigſten Thiere, in dieſer Weiſe behandelt,
dieſelben Erſcheinungen wie ſchlafende zeigten.
Ich ſchritt zur Ausdehnung dieſer Verſuche auf den
Menſchen und begann mit mir ſelbſt. Ich fand zwar
viele individuelle Verſchiedenheiten, aber an mir ſelbſt
wenigſtens beobachtete ich nach Einführung von milch-

ſaurem Natron große Ermüdung. Leider zeigt ſich eben

dieſer Erfolg nicht conſtant bei verſchiedenen Individuen.

beruht, kann ich noch nicht ſagen.
Individualität der Verſuchs⸗Individuen in Betracht ziehen,
wie ja auch das Chloral bei Manchem gar nicht wirkt,
bei Anderen in den geringſten Mengen. Auf meine Ein-
ladung hin haben Aerzte und andere Gelehrte Verſuche
angeſtellt, und trotz der kurzen Zeit von einem Jahre
ſind mir ſchon viele Mittheilungen zugegangen. So er-
gaben ſpeciell die Unterſuchungen von Lothar Meyer in

Berlin und Jeruſalinski in Moskau zwar in einzelnen

Fällen keinen Erfolg, aber in der überwiegenden Mehr-
heit der Fälle iſt ein günſtiger Erfolg beobachtet worden.
Die ungünſtigen Ergebniſſe ſcheinen mir nicht geeignet,

möglichſt

meinen Satz zu erſchüttern, ſondern ſie ſind vielleicht eher

einer uncorrecten Anwendung der Präparate, einer be-
ſonderen Beſchaffenheit einzelner Verſuchs⸗Individuen oder
irgend einer Unreinheit in den Präparaten zuzuſchreiben.
Die Verſuche ſollten daher um ſo eifriger fortgeſetzt wer-
den. Man kann ſich doch wohl Fälle vorſtellen, wo blos
durch chemiſche Alterirung der grauen Subſtanz eine Er-
nährungsſtörung entſtehen kann, durch welche die nor-
male Erzeugung der Ermüdungsſtoffe verhindert wird,
und kann ſich ſehr wohl denken, daß, wenn ich künſtlich
dieſe Stoffe einführe, dieſelde jenen Sauerſtoff an ſich
reißen, welcher zur Inganghaltung normaler Geiſtes-

proceſſe nöthig iſt und dadurch der Ganglienzelle Zeit

laſſen, ſich zu erholen; ja ich möchte es als nicht un-
wahrſcheinlich bezeichnen, daß eine dauernde Beſſerung
einiger pſychopathiſcher Zuſtände herbeigeführt werden
könnte. Ueberhaupt iſt ein Fortſchritt nur möglich durch
das Zuſammenarbeiten von Pathologie, Chemie und Phy-
ſiologie. Gerade beim Chemismus der grauen Subſtanz
knüpfen noch Probleme vom höchſten und allgemeinſten
Intereſſe an. Wir wiſſen nicht, warum wir nicht nach
Belieben tage⸗, wochenlang hinter einander wach ſein
oder ſchlafen können. In der angegebenen Weiſe iſt die
Beantwortung dieſer Fragen vielleicht möglich. Wir
wiſſen ferner nicht, wodurch ſich das Willkürliche vom
Unwillkürlichen unterſcheidet. Dagegen glauben wir zu
wiſſen, daß im Schlaf der Wille fehlt, und doch ſchwingt
ſich der Träumende hoch in die Lüfte ohne Flügel.
Nur darf man nicht von vornherein alle derartigen Be-
wußtſeins⸗Erſcheinungen als etwas Unerklärbares anſehen.
Gerade an dieſer Stelle muß gegen einen jeden Verſuch,
die Wiſſenſchaft der Bewußtſeins⸗Erſcheinungen an irgend

einer Stelle zu verbarrikadiren, Verwahrung eingelegt

werden. Die Wiſſenſchaft ſchreitet wie ein Coloß über
Pygmäen darüber hinweg. Wohl iſt es wahr, daß ge-
rade dieſes Gebiet jetzt der Tummelplatz ſpiritiſtiſcher
Träumereien iſt, aber ſchließlich muß doch auch hier die.
Phantaſie dem Experiment, der Aberglaube der Vernunft,
der exacten Wiſſenſchaft das Feld räumen; denn in all
dieſem Zweifeln nud Lernen ſteht doch Eines unerſchütter-
lich feſt: die menſchliche Vernunft, welche die Welt trägt,
und mag alles Andere Traum ſein — dieſe iſt kein
Traum! (Langanhaltender Beifall.)

Aus dem Schwurgerichtsſaale.
Konſtanz, 30. Sept. Bei großem Zuhörerandrang
kam heute die Anklage gegen den 60jährigen altkatholiſchen
Pfarrverweſer Thomas Braunn zu Säckingen und den
23jährigen Redacteur und Buchdrucker Franz Mohr
von da zur Verhandlung. Die von großh. Staatsanwalt
Beck von Waldshut geführte Anklage ſtützt ſich auf einen
in Nr. 57 des „Neuen Trompeters von Säckingen“ vom
19. Juni d. J. enthaltenen Artikel mit der Ueberſchrift:
Rundſchreiben gegen die Biſchöfe vatikaniſcher Verſamm-

lung, und iſt unterzeichnet: Thomas Braun, Prieſter der
Worauf das Ausbleiben des Erfolges in einzelnen Fällen erzbiſchöflichen Diöceſe Paſſau.
Man muß dabei die

Die Anklage führt in

längerem Vortrag aus, daß der Staat den anerkannten

Religionsgeſellſchaften gegen Angriffe auf ihren religiöſen

Glauben, ihre Ordnung und Einrichtungen, ſo wie ſolche,

die gegen den religiöſen Frieden gerichtet ſind, Schutz zu
gewähren habe. Eine ſolche ſei aber gewiß die kathol.

Kirche, und zwar ſei es eins, ob eine Beſchimpfung, wie

ſie die Anklage als durch jenen Artikel geſchehen, behaupte,‚
gegen bie altkathol. oder gegen die röm.⸗kathol. Kirche

gerichtet geweſen ſei, denn beide zuſammen bildeten die

kathol. Kirche. Des Vergehens der Beſchimpfung habe
ſich der Angeklagte dadurch ſchuldig gemacht, daß er die
katholiſche Kirche eine antichriſtliche Secte (unchriſtliche
Glaubenspartei), eine Gottesläſterungskirche, einen Sünder-
 
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