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Die Kunst-Halle — 6.1900/​1901

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Nummer 2
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Die künstlerische Erziehung der Jugend
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https://doi.org/10.11588/diglit.65263#0030

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20

4- Die Aun st-Halle

Nr. 2

Die hüysklerische HrLiehunA
öep ZciAeyö.
it der Frage der künstlerischen Er-
ziehung unserer Jugend, die eine nahe-
liegende Bedeutung für den Schulzeichen-
unterricht hat, beschäftigen sich die interesfirten Kreise
seit einiger Zeit mit besonderem Eifer, ohne daß der
allgemein als wichtig erkannte Gegenstand aus dem
Vorstadium der Berathung bisher irgendwo in die
Wirklichkeit übertragen worden wäre. Darin ist die
Mehrheit einig, daß bei der dringenden Schulreform
die Frage des Zeichenunterrichts mit im Vordergründe
der Erwägung stehen würde. Auch wir haben in
diesen Blättern schon wiederholt nachdrücklichst darauf
hingewiesen, daß die Schule dem heutigen reichen
Kulturleben in der Richtung der ästhetischen Er-
ziehung der Rinder noch viel schuldig ist und daß sie
zunächst mit einein obligatorischen Freihandzeichen-
unterricht von der Sexta bis zur Oberprima ihre
alte Schuld abzutragen hätte. Obwohl bereits im
Jahre l.890 dieser Antrag aus einer Schulkonserenz
von erfahrenen, angesehenen Pädagogen gestellt
wurde, scheiterte dennoch, die Durchführung damals
an dem Widerstand der Gegner. Die betrachteten
das verlangte Neue lediglich vom Standpunkt der
Ueberbürdung mit Arbeitsstoff und erwogen leider
nicht, daß bei geeigneter zeichnerischer Beschäftigung
es sich viel eher um eine Kompensation der aus
den höheren Schulen angehäusten Verstandesarbeit
zu Gunsten geistiger Erholung handele.
Wir begrüßen daher die in unserem Sinne unter-
nommenen Anstrengungen, die der Vorstand des
„Landesverbandes preußischer für höhere Lehranstalten
geprüfter Zeichenlehrer" unermüdlich macht, um den
von uns hier mehrfach beleuchteten Gedanken in
weite Kreise zu tragen. Das geschah u. A. schon
durch eine im Jahre sssjö gestellte Preisausgabe des
Vereins über das Thema: „Hat die bildende
Kunst dieselbe Bedeutung und denselben Werth
für die Erziehung und die allgemeine Bildung unserer
Jugend wie die Wissenschaft?" Von den gelieferten
s9 Bearbeitungen erhielten drei Sie Auszeichnung des
Preises und der Veröffentlichung, die nun als Bro-
schüre dem Urtheil der Lesewelt vorliegt (pr. Mk. H —,
Verlag von M. Hengstenberg, Bochum i. w.). Die
Autoren dieser drei Preisarbeiten sind die Lehrkräfte
Jos. Hiersche in Komotau, Anna Beyer in Forst und
H. Grothmann in Groß-Lichterfelde. Hat der Erst-
erwähnte wohl am Gründlichsten die Gesichtspunkte
der gestellten Ausgabe erwogen, so ist es den beiden
Andern dafür gelungen, auch durch den Reiz der
Behandlung dieser Frage mehr das ideale Moment
hervortreten zu lassen. Zur Vervollständigung der
Absicht, die jener Verein mit der Veröffentlichung
verband, hat er den Aussätzen eine Reihe mehr oder
weniger die Sache treffender, gedankenreicher Ans-
prüche anerkannter Pädagogen und Männer der
Wissenschaft vorangestellt. Die gesammelten Aus-
sprüche beziehen sich zum Theil aus die erwähnte
Schulkonserenz von s8s)0, zum Theil stammen sie aus
Schriften und Reden. Hier fehlt merkwürdigerweise
Manches, was den Gegenstand viel eindringlicher-
behandelt, als verschiedene der gewählten Proben,
z. B. gedruckte Aeußerungen von Guido Hauck (vgl.
„Kunsthalle" II. S. s6s: „Reber innere Anschauung
und bildliches Denken"), Direktor Pros. B. Schwalbe,

Maler L. Grosser. Auch fällt es aus, daß man
Künstler von Rus, die sich mit diesen Dingen be-
schäftigen, überhaupt nicht gehört hat. Uns scheinen
besonders einige der Grothmann schen Ausführungen
der preisschrist nach Inhalt und Form so ansprechend,
daß wir gern Gelegenheit nehmen, sie unfern Lesern
nachstehend vorzusühren.
„Das Ziel des Unterrichts in der bildenden
Kunst ist ein zweifaches: positives Können und Ge-
schmack. Das Können schließt die Fähigkeit eines
richtigen künstlerischen Sehens und des Gedächtnisses
für die dauernde Aneignung von Naturvorstellungen
sowie einen sicheren Gebrauch von Stift, pinsel bezw.
Modellirholz in sich.
Immer muß hervorgehoben werden, daß die
Hauptsache beim Zeichnen die gedächtnißmäßige Aus-
nahme von Bildern der Wirklichkeit ist, der Form der
Dinge, ihren Beleuchtungserscheinungen, der Farbe
und daß das äußere Auge nur das Werkzeug des
inneren „Auges", der Einsicht, des Verstandes und
des Empfindens ist, gleichwie die Hand nur die Auf-
gabe erfüllt, jene Vorstellungen zu firiren, nieder-
zuschreiben. Das Verhältniß zwischen Zeichnen und
Schreiben, d. h. Buchstaben machen, ist also ein
wesentlich anderes als gewöhnlich angenommen wird
und praktisch in der Nebeneinanderstellung von
Schreiben und Zeichnen zum Ausdruck kommt. Faßt
man aber den Begriff des Schreibens weiter als das
Mittel, um Gedanken zu firiren, so haben wir in dem
Zeichnen das genaue Gegenstück zur Schrift. Man
wolle nie außer Acht lassen, daß jeder Strich ein
Urtheil, eine Behauptung ist, und daß die Qualität
dieses Urtheils den Gradmesser für seinen Werth bildet,
so daß man mit Fug und Recht und nicht nur bildlich
von einem geistreichen bezw. geistlosen Strich reden
kann.
Der große Nutzen des Zeichnens und Malens
für das Anschauungsvermögen als einer Kraft einer-
seits und für den Inhalt der Vorstellung andererseits
ist allgemein zugestanden. Wo nicht das bewußte
Sehen geübt und das Gedächtniß nicht einigermaßen
mit natürlichen Erinnerungsbildern gesättigt wird, da
muß in der harmonischen Bildung des Menschen
eine empfindliche Lücke Zurückbleiben, die sich überall
in der anschauungsarmen Denk- und Ausdrucksweise
offenbart. Wir kommen hiermit aus eine Wirkung
des Zeichnens, von der kein Geringerer als Goethe
sagt: „Das Zeichnen Hilst dem Dichtungsvermögen
aus, anstatt es zu hindern, denn zeichnen muß man
viel, schreiben wenig." Dieses ist dahin zu verstehen,
daß die Methode des Denkens durch die im Zeichnen
gepflegte Anschauung der realen Dinge an Gegen-
ständlichkeit, an Reichthum sinnlicher Vorstellungen
von Formen und Farben gewinnt. Denn das Denken
ist ein Sehen aus höherer Stufe. Es wird durch Goethe
eine Beziehung des Zeichnens zu der vornehmsten
Aeußerung des menschlichen Geistes ausgedeckt.
In Bezug aus die bildende Kunst kann nur dann
von einer Kunstkennerschast die Rede sein, wenn
ein gewisses Maß von natürlichen Anschauungs-
bildern fest im Gedächtnisse vorhanden ist. Nur
dann, wenn ich erkenne, was der Künstler aus der
Natur „herauszureißen" verstanden hat, kann sich
mein Urtheil über sein Weck selbstständig bilden,
wie ich den Dichter nur voll verstehen kann, wenn
ich Aehnliches an und in mir erlebt habe. Voll und
ganz ist nur der größte Kenner der Natur und des
Menschenlebens einer wirklichen Würdigung eines
 
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