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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (5) — 1923 (Januar - April)

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Nr. 71 - Nr. 80 (24. März - 6. April)
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Tagks-ZeMg für k!e VerMeeVeoolkerm der NMWtte MelSerg. WkeZloS. 6Me!N. EWlmea. VerbO, Mosbach. Buche». Abelshenu. Dorberg. Tauberbischossbeiul u. WerthelN

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Hunden der Redaktion: ll—Ui UH«,
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Let.-Aor.:VoUsze,lung Heidelberg.
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6. Jahrgang

Heidelberg, Samstag, den 31. Marz 1923

Nr. 76


Ostern 1923.
§r. Heidelberg, 31. März.
Wenn auch einzelne kalte Nächte noch hemmend
wirken, so bricht der Frühling doch mit fester
Willenskraft des Winters Macht. Linde Lüfte laden
ein. Warme Sonne sendet labende Strahlen. Natur
feiert Auferstehung.
Auch der Mensch? Die Menschen? Die Mensch-
beit? Der Wille dazu ist da. Bei Vielen wenigstens.
Die Kraft fehlt jedoch. Die Macht des Winters
drückt hier den Frühling nieder. Winterstim-
mung herrscht hier auch an Sonnentagen. Ob für
immer? Nein und abermals nein. So wuchtig auch
der Winter als Vertreter abgelebter Formen die
jungen Ansätze des Frühlings niederhält — auf die
Dauer kann eS Greisenformen nicht gelingen, junges
Blut zu unterdrücken. Die Jugend, der Fortschritt
wird und mus; siegen, so sehr es auch abwartender
Geduld, sehr langer Geduld bedarf.
Trüb ist die Lage der Einzelnen, trüb die Lage
unseres Volkes, gleich trüb die Lage der gesamten
Menschheit.
Hunger und Not gehen als böse Gespenster
durch den Haushalt weiter Kreise des Volkes. Die
Ostereier, einst von Riefengrötze, sind sehr klein ge-
worden. Ja, oftmals reicht der schmale Geldbeutel
kaum, um den Kleinen auch nur diese Freude zu
bereiten. Auch der Ostertisch ist schmal geworden;
von Leckerbissen keine Rede. Die Frühjahrsgarde-
robe, einstmals auf Ostern nagelneu vom Schneider
gekommen, ist bestenfalls der alte Anzug in neu ge-
wendeter Form. Eine traurige Zeit ist cs so, die
wahrlich Feststimmung kaum aufkommen läßt.
Richt weniger zerrissen als der Einzelne ist un-
ser Volk. Die moralische Unterwühlung, die der
Krieg hervorgerufen, ist auch heute noch nicht be-
hoben. Laudsknechlnaturen, die für Geld und ge-
uuMchtigcs Leben sich jedem gut zahlenden Herren
nn den Hals werfen, bedrohen unser Staatsgefüge,
sind jeden Augenblick bereit, durch Mord und Tot-
schlag unser Staatsgefüge völlig aus den Angeln zu
heben. Gutgläubige Naturen, die zu wenig Einsicht
in die weltpolitischen Konstellationen haben, rin, zu
erkennen, was wahrhaft dem Vaterlande frommt,
leisten ihnen dabei Beistand. So leben wir auf
einem Vulkan, der jeden Tag explodieren kann, wenn
nicht die Regierung in entschlossener Kraft Dämme
anfwirft, an dem jeder meuterische Widerstand bricht.

Verschärft — zum großen Teil sogar hervor-
Lerufen — wird diese trostlose Lage noch durch die
barbarische Gewaltpolitik der heule in
Unserem westlichen Nachbarstaat herrschenden Träger
des französischen Imperialismus. Nichts gelernt u.
nichts vergessen: dieser für viele andere Länder an-
wendbare Satz gift im Besonderen für die Politische
Schule Poincarös. Ebenso wie Prcntzcn Deuisch-
land glaubte durch gewalttätige Niederhaltung der
Gegner sich dauernd freies Marschfeld zu sicher»,
ebenso glaubt auch Poincars durch alle rnöglichen
»Sicherungen'" sich dagegen sichen» zu können, das;
Unrecht sich nicht rächt- Als ob es in der Geschichte
überhaupt dauernd Sicherungen gäbe. Als ob nicht
Überhaupt sich die weltbewegenden Kräfte nicht stau-
big verschieben würden.
s Tür die Gegenwart allerdings sind wir durch
'diese Gewaltpolitik in einer geradezu katastrophale
Stimmung getrieben worden — eine Situation, aus
dcr sich vorerst keinerlei Ausweg zu zeigen
schein,, da die volksparteiliche Rcichsregierung an-
scheinend sich nicht berufen fühlt, die Initiative zu
weiterer Entwicklung zu geben.
Gleich trübselig ist aber auch die Lage der an-
deren Völker. Auch in den anderen Staaten gehen
"'wt und Elend umher; auch anderwärts herrschen
'Wien- und außenpolitische Sorgen schwerster Art.
Nirgends ein befreiendes Gefühl, von den in „splen-
dsh Isolation" dastehenden Staaten abgesehen. So
dar das „Stahlbad des Krieges" nirgends
s°We reinigende Wirkung gehabt, die ihr rede- und
ch-ciblüsterne Generale zugeschrieben haben. Im
^cgenteil: Wir lebten, gemessen an den heutigen
"ständen der Welt, in gänzenden Verhältnissen in
Vorkriegszeit, so viel absolut auch damals
'b wünschen übrig blieb. Der Krieg, den auch heute
^och wackere Heimkriegcr und gurgenährte Generale
Vater allen Glückes Preisen, hat mit brutaler
alles gewaltsam zerstört und viele Jahre
' b e l i g e n A u f b a u e s liegen noch vor uns.

Und trotzdem! Wir wollen den Glauben an
die Zukunft nicht verlieren. Wie auf Regen Sonnen-
schein folgt, so werden auch diesen Jahren des Trüb-
fals wieder lichtere Zeilen folgen. Nur wer
sich selbst aufgibt, ist verloren. Auch im Leben.der

Völker folgt Ebbe und Flut. So wird auch der
heutigen Zeit des Niedergangs wieder eine Zeit des
Aufstiegs folgen. Für den Einzelnen, für das
deutsche Volk, für die Menschheit. Dies sei'unser
Trost iw dieser harten Osterzeit!

Nm die Ruhrfrage.
Eine erregte Kammersttzrmg. — Der Protest der Sozialisten. —
Poincare verlangt direkte Vorschläge von Deutschland.

Paris, 30. März. (Eig. Meldung.) Die franzö-
sische Kammer faßte gestern nachmittag unerwartet
den Beschluß, zu einer Nachtsttzung zusamülenzutre-
tcn, um verschiedene Vorlagen zu erledigen, die der
Senat im Lause des Tages angenommen hatte. Um
9.10 Uhr abends begann die Sitzung. In der Gene-
raldebatte ergriff der sozialistische Abgeordnete Le-
tz a s das Wort und erklärte, seine Freunde wollten
nicht auf das Manöver hineinfallen, das nach der
Abstimmung über die Budgetzwölstel geplant sei.
Deshalb hielten sie daran fest, daß vor den Fragen
die Ruhrfrage diskutiert werde. Die Repara-
tionsfrage trage den KetmeinesneuenKrie-
ge s in sich. Die Proletarier Frankreichs, Englands
und Deutschlands erkannten die französischen An-
sprüche auf die Reparationen an, aber was die
Methode anbetrifst, unterscheiden wir uns von der
Mehrheit der Franzosen, die an die Wirkung mili-
tärischer Gewalt glaubt. Als der jetzige Finanz-
minister Berichterstatter über das Wiederaufbau-
budget war, erklärte er, die französischen Industriellen
hät-en zu ost Furcht vor der Konkurrenz der deut-
schen Lieferungen gehabt. Die Ruhrbesetzung hat
noch viel weniger eingebracht, als die Politik der
letzten Jahre, die indessen unzulänglich war. Seit
der Rubrbesetzung wurde das Wirtschaftsleben der
Welt gestört. Seine Freunde hofften immer noch aus
internationale Abkommen, um die Konflikte zu lösen.
Seine politischen Gegner seien wie die Bolschewisten,
die glaubten, alles durch militärische Gewalt lösen
zu können und die schließlich doch einsehew mutzten,
daß sie sich getäuscht haben. Es sei zu befürchten,
daß eine zu lange Besetzung Deutschlands das Na-
tionalgefühl des deutschen Proletariats verstärken
werde. Er und seine Freunde wollten Frankreich
und der geheiligten Sache des Friedens dienen.
Man beantragt Schluß der Generadebatte, was
mti 382 gegen 162 Stimmen angenommen wird. Alle
Artikel der Kreditvorlage werden genehmigt.
Hierauf ergreift Abg. Herriot das Wort, um
über die gesamte Vorlage zu sprechen, und um Poin-
cars, wie er sagt, im Interesse des Landes 2 Fragen
vorzulegen:
1. Ma» behauptet in der ganzen Welt, da, wo
man Frankreich erkennt, datz wir aufgcbört hatten,
tnr Ruhrgebiet wirtschaftliche Ziele zu verfolgen und
daß wir nunmehr politische Ziele zu erreichen such-
ten, ja, daß wir selbst auf Annexionen abzielten.
2. fordere ich die Negierung auf, zu erklirren, daß
Frankreich mit Gerechtigkeit jeden ernsten Versuch
prüfen wird, den Deutschland Frankreich oder der
Gesamtheit der Alliierten machen wird. ,
PoincarS antwortete: „Ich habe bereits ge-
sagt, daß an dem Tage, wo die deutsche Regierung
die Nutzlosigkeit ihres weiteren Widerstandes ein-
sehen und an alle alliierten Negierungen konkrete
Vorschläge machen wird, diese Vorschläge von uns
mit grösster Gerechtigkeit und Loyalität geprüft wer-
den würden. Ich habe hinzugefügt, daß es absurd
und geradezu abscheulich wäre, den Franzosen den
Gedanken einer Annexion der Rheinlande oder des
Ruhrgebietes zuzuschreiben. Ich habe immer gesagt,
daß wir ins Ruhrgebiet gegangen sind, um dort
wirtschaftliche Ziele zu verfolgen. Wir haben nie-
mals die Absicht gehabt, uns auch nur einen Zoll
deutschen Bodens anzueignen, aber wir werden un-
sere Pfänder nur gegen Realitäten wieder hergeben.
Wir werden uns aus dem Ruhrgebiet nm nach Maß-
gabe der Zahlungen, die wir bekommen werden, zu-
rückziehcn. Deutschland hat heute keine auswärtigen
Schulden mehr und hat infolge des Zusammen-
bruchs der Mark auch kaum noch innere Schulden.
Es ist also weniger belastet wie Frankreich und muß
unbedingt den gesamten Schaden, den es angerichtet
hat, wieder gutmachen." Die Rede wurde wieder-
holt durch Beifallsäuberungen unterbrochen.
Ein neuer Protest der deutschen
Regierung.
Berlin, 29. März. Die deutschen Vertreter in
Paris, London und Brüssel haben den dortigen Re-
gierungen eine Note überreicht, in welcher gegen die
neuen Verordnungen (Nr. 151—154) der Rheinland-
kommission protestiert wird.
Die englische Ruhrdebatte.
London, 29. März. Die durch die gestrige
Debatte erwiesene Tatsache, datz die Erklärungen des
Ministers v. Rosenberg ausreichten, den Par-
lamentarischen Druck auf die englische Regierung
und zugleich durch die englischen Reden den mora-
lischen Druck auf Frankreich zu verstärken, tritt heute
auch in der Presse zutage, so datz eine entschieden
günstige Wirkung festzustellen ist

Loucheur in London.
Paris, 30. März. „Echo de Paris" teilt mit,
datz der ehemalige Minister Loucheur sich nach
London begeben habe, um dort seine Ansichten über
die Regelung des Wiederherstellungsproblems im
Sinne seiner Rede von Grenoble zum Ausdruck zu
bringen. Wenn das der» Tatsachen entspricht, dann
hat man es mit einer gesonderten Aktion zu tun, der
man die größte Aufmerksamkeit schenken muß. Das
Blatt hat schon früher darauf hingewiesen, daß sich
Lloyd George und Loucheur begegnen werden.
Jnterventionsabsicht des Papstes?
Paris, 30. März. Der „Newyork Herald" Will
Wissen; der Papst beabsichtige in Form einer Oster-
bolschast in dem Konflikt zwischen Deutschland und
Frankreich zu intervenieren. Die Botschaft vermeide
es, auf die wirtschaftliche Seite des Konfliktes ein-
zugehen, und beschränke sich auf den Vorschlag eines
Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich, in
dem beide Regierungen sich gegenseitig verpflichten
sollten, sich jedes künftigen Angriffs zu enthalten.
Andere europäische Mächte sollen aufgefordert wer-
den, dem Vertrage beizutretekl, der eine ausdrückliche
Klausel enthalten soll, datz alle Regierungen sich
gegen diejenige Macht verbänden, die den Vertrag
brechen sollte.
Offenburg.
Regierungsrat Saenger wieder auf freiem Fuß.
Karlsruhe, 29. März. Der seinerzeit zu 50
Tagen Gefängnis von den Franzosen verurteilte
Vorstand der Betriebsinspektion Offenburg, Regie-
rungsrat Saenger ist gestern nach Beendigung seiner
Strafe in Mainz auf freien Fuß gesetzt und ausge-
wiesen wordeit.
Ruhr.
Wettere Besetzungen.
Dortmund, 29. März. Die Franzosen besetz-
ten haute vormittag die Bahnhöfe Lüdriughauseu,
Hörde-Hachney, Hörde-Aplerbeck und Aplerbeck-Süd.
Der Verkehr von diesem Bahnhöfen ist gesperrt.
Eine französische Drohung.
BschuMs 29. März. BlatterMeldun-gm zufolge
hat der französische Zivilkommandant in Bochum an
die Bochumer Geschäftswelt, die seit 4 Wochen als
Protest geigen die Requisitionen ihre Läden geschlos-
sen hält, die Aufforderung gerichtet, ab 1. April alle
Läden zu öffnen, sonst wü.chen die leitenden Per-
sonen der Geschäfte oder deren Inhaber mit Ge-
fängnis nicht unter einem Jahr bestraft werden.
Verhaftungen.
Köln, 29. März. De, Bonner Oberbürger-
meister Dr. Falk ist verhaftet worden, ebenso
der Redakteur Mendel von der „Bonner Zeitung
wegen seiner Stellungnahme zum Mordanschlag auf
Smeets. Ferner wurde der geschäftssührende Vor-
sitzende der Bonner demokratischen Partei, Gym-
nasiallehrer Westerman» ausgewiesen.
Ablehnung der Kohlenftcuer.
Berlin, 30. März. Wie das „B. T.° erfährt,
haben die Großindustriellen des Ruhrgebiets den
Beschluß gefaßt, die Zahlung der von den Franzosen
und Belgiern geforderten Kohlensteuer abzulehnen
und alle Folge» auf sich zu nehmen.
Eine ausgefallene Dtadtverordnetensitzung.
Köln, 30. März. Die für gestern nachmittag
angesetzte Essener Stadtverordnetensitzung mutzte
nach der „Köln. Ztg." aussallen, da die Erwerbs-
losen sich auf dem Burgplatz zusammenrotleten.
Auflösung des Gemoinderals von Rotthausen.
Essen, 29. März. Der Gemeinderat der Land-
gemeinde Noithausen, in der in den letzten Tagen
kommunistische Unruhen stattgefunden haben, ist von
der preußischen Staatsregierung auf Grund des Ge-
setzes von 1856 ausgelöst worden.

Berichterstattung über die Berliner
Sozialistenkonferenz.
Paris, 31. März. Die interalliierten sozialisti-
schen Vertreter, die in Berlin zu Verhandlungen mit
den deutschen Sozialisten versammelt waren, sind
nach Paris zurückgekehrt. Zur Entgegennahme ihres
Berichtes sand Freitag vormittag eine Sozialisten-
konferenz statt, an der u. a. von belgischer Seite Huy-
mans, von englischer Seite Ramsey Macdonald und
Henderson und von französischer Seite Blum, Auriol

und Longuet teilnahmen. Der französische Vertreter
Auriol legte einen sehr ausführlichen Bericht übe,
die Berliner Verhandlungen vor, der in der Vor-
mittagssitzung nicht zu Ende geführt werde» konnte.
Die Verhandlungen wurden am Nachmittag fort-
gesetzt.

Politische Ueberstcht.
Eine „deutsche Geistesfeuche".
Ein konservatives Urteil über die
Nationalsozialisten.
In der Süddeutschen Konservative»
Korrespondenz beschäftigt sich ihr Heraus-
geber, der bekannte konservative Schriftsteller Adam
Roeder, mit dem Wesen dcsNationalsozia-
lismus. Er geht von den bekannten Zusammen-
hängen zwischen der scharfmacherischen Schwer-
industrie und Hitler aus, weist die These einer
Unterstützung durch das Ausland zurück und kommt
zu folgendem Ergebnis:
Viel näher kommt man der Wahrheit jede»»
falls, wenn man in Hitler einen Menschen jener
politischen Hysterie erkennt, die sich äugen,
bltcklich von dem Stimulans des Anti-
semitismus belastet als eine deutsche
Geistesfeuche in unserem Volk ausbreitct. Der
Antisemitismus ist noch immer das begehrte-
ste Mittel, um die Volksleidenschasten nach
einer bestimmten Richtung hin aufzuwühlen und
sie für politische Strebungen, die sich gegen den
Bestand der Republik richten, auszunützcn. ^Die
antisemitische Verseuchung geht durch alle Volks-
schichten; keine Partei ist von ihr verschont. Wenn
man erlebt, datz die antisemitische Theorie selbst in
die Bezirke der Intelligenz einbricht, wie Persön-
lichkeiten von graduiertem Können ihr unterliegen
so hat man einen Beweis dafür, in welchem Um-
fang Suggestionen Einfluß haben, wenn
nicht ein durch elementare Religiosität beeinflußter
Wille zur Selbstzucht und moralischen Disziplin
die sittliche Vorstellungswelt bestimmt. Die deut-
sche Oeffentlichkeit und der deutsche Mensch sind
nervös geworden. Es ist so bequem, einen!
Generalschuldigen für alle politischen und
Wirtschaftheu Gebresten zu besitzen und das alles
noch mit nationalistischer Entrüstung zu verbrä-
men. Diese Evolution des deutschen Menschen
zum Prinzip der „nationalen Erneuerung" kann
nian mit dem Antisemitismus leicht exerzieren und
darf dabei noch deS Beifalls weiter Kreise gewiß
sein."
Roeder schließt mit folgenden Worten: Nur wenn
die Gerechten, die Sachlichen, die Vornehinen, die
ihrer Verantwortlichkeit sich Bewußten den Antise-
mitismus als das schleichende Gift erkennen,
mit dem die moralische Widerstandsfähigkeit des
Volkes gebrochen und sachliche Anschauung getrübt
wird —, kann der Bewegung von innen heraus Ein-
halt geboten werdem"
Die Krone als Staalssymbol.
Die bayerische Staatsregierung hat dem Laich-
tag einen Gesetzentwurf über das Moppendes
Freistaates unterbreitet. Der Entwurf be-
stimmt u. a.: „Das große bayerische Staatswappen
besteht aus einem gevierten Feld. Das erste Feld
ist weitz-blau, das zweite zeigt in Schwarz einen gol-
denen, rotbewehrten Löwen, aus dem Schilde rot eine
Volks kröne; sie besteht aus einem mit Steinen
geschmückten goldenen Reifen, der oben mit fünf or-
namentalen Blättern besetzt ist." In der Begrün-
dung des Gesetzentwurfes heitzt es: „Kronen sind
ihrem Sinne und ihrer Bedeutung nach das Zeichen
ihrer Vollendung und Machtvollkommenheit, also
auch das Zeichen der Staatsgewalt. Auch der Frei-
staat kann eine Krone auf seinem Wappen führen,
nur mutz sie in einer Weise gestaltet werden, datz eine
Verwechselung mit einer Fürstenkrone ausgeschlossen
ist. Das Gesetz soll als dringend bezeichnet werden."
Die Krone als Symbol der heutigen bayerischen
Staatsgewalt ist in der Tat gut gewählt, zumal,
Wenn man sich der Worte des bayerischen Kultus-
ministers Matt erinnert, das; die Kaiserkrone nur
„vorübergehend versunken" sei. Das
kann man allerdings auch von der heutigen baye-
rischen „Staatsgewalt" sagen, die leicht mit einer
Monarchie „verwechselt" werden kann.

Die Lage im Reich.
Kommunistische Kindereien.
Berlin, 29. März. Der sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete Künstler, der kürzlich in
einer Versammlung von Kommunisten schwer miß-
handelt worden war, sprach gestern abend über das
Thema „Die Sozialdemokratie und die Kommunisti-
sche Partei". Da mit einer Wiederholung linksradi-
kaler Angriffe auf den Referenten zu rechnen war,
hatte die Versammlung polizeilichen Schutz erhalten.
Tatsächlich versuchten die Kommunisten auch die Ver-
anstaltung zu stören. Schließlich griff die Schutz-
polizei ein, um die Störenfriede zu entfernen. Dabet
kam es zu erregten Szenen. Die Kommunisten gin-
gen gegen die Beamten tätlich vor und griffen sie
mit Messern an, so daß die Polizei ihrerseits von
 
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