Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (5) — 1923 (Januar - April)

DOI Kapitel:
Nr. 91 - Nr. 100 (19. April - 30. April)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48725#0481
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Bezvtzspret»: Monatlich eMschlteßl,
TrSaerlohn Mk. WM.—. An,ei«em
inrise: Die einspaltige Petitzeile
oder deren Raum (31 mm breit)
Mk.SSN.—. Netlameanzeigen(74mm
>reit)Mr.KM.—. BciWiedcrholun»
genNachlafi n. Tarif. Weheimmittel-
anzcigen finde» leine Aufnahme,

Volkszeitung

chefchLftefiunden S—Svhr. Sprech»
Kunde» der Redaktion: II—IL Uhr.
Poftscheckkonto Karlsruhe Nr.WSTk.
Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.
Druck u. Verlag der Untcrbadiseye»
Berlagsanstalt G. m. b. H., Heidel»
berg. Eeschäitsstelle: Schrüdersir.A).
Tel.: Erpedmon MS u. Redak. W7L.

rsges-ZeMg für die «erMkige Bevölkerung der Amlsbezltte Seldelberg. WlesloS. SlvsSeiw, Wlngeu, VerbaS. MosSaH. BuSen. Melshelm, Doröerg. rauSerbWosshelm n. WeMelm

5. Jahrgang

Heidelberg, Mittwoch, den 25. April 1923

Nr. 96

M M l»
Von Ernst Reuther.
Der Artikel beleuchtet in interessanter
Weise die inneren Kämpfe in der KPD-
Genosse Reuther, der früher selbst Zur
KPD. gehörte und mit der Lsvigrupve
zur VSP. gekommen ist, schätzt in
austerordentlich klarer und nüchterner
Weise die politische Entwicklung des
Kommunismus über den Tag hinaus
ab.
Die deutsche Kommunistische Partei lebt gegen-
über anderen proletarischen Organisationen in ver-
hältnismäßig günstigen Bedingungen. Subven-
tionen, die monatlich viele Millionen betragen, er-
möglichen es ihr, sich einen zentralen Apparat, eine
gefügige Parteipresse und gefügige Agitatoren zu
erhalten, ohne die die Partei als Organisation
zweifellos zum Scheitern gekommen wäre. An
Sow-jetrutzland und seinen politischen Führern haben
die Leiter der deutschen Kommunistischen Partei
einen Rückhalt, der ihnen immer wieder über alle
»Dummheiten" hinweghilft. Und doch waltet ein
Unstern über der Entwicklung der KPD. Die ent-
setzliche Misere des dentschenNachkriegslebens führt
den Kommunisten immer wieder Massen zu, die eine
radikalere, schnellere Lösung ihres Elends von dorr
Versprechungen der Kommunisten erhoffen. Diese
Massen sind nicht die, die Vor dem Kriege in jahr-
zehntelanger Schule der sozialistischen Bewegung
gestanden haben. Die letzteren sind vielmehr nach
Vrandlers eigener Darstellung die Hochburgen der
Sozialdemokratie.
Sind nur die der KPD. zuströmenden Massen
einmal gesammelt, formiert, durch einen organisato-
rischen Apparat zusammengohalten, so erwarten sie
die Einlösung der gegebenen Versprechungen. Ist
das Hemmnis „verräterischer Führer" beseitigt,
was könnte den Drang nach Aktionen, die das
Wunder der Erlösung bewirken sollen, noch hem-
men? Die gesammelte Kraft must verwendet werden,
wenn nicht der zerstörende Geist des syndikatistisch-
anarchistifchcn Anttführerrufs neue Opfer in den
eigenen Reihen fordern soll.
Aber die Geschichte und die politischen Tatsachen
sind mächtiger als Ideologien; sie zeigten nur zu
deutlich, daß es mehr Hemmnisse für die politische
u. wirtschaftliche Machtentfaltung des Proletariats
gibt, als nur den vermeintlichen „Verra t" schwach-
mütiger Führer. Im Jahre 1S19, in den sturmbe-
wegten Zeilen der Liquidierung des Krieges, in der
Demobilmachungskrise fast aller grasten kapitalisti-
schen Staaten, mochte der Gedanke der Macksterobs-
rung durch einen kühnen Anlauf bestechend sein.
1923 hat er für jeden, den die Götter nicht für im-
mer mit Blindheit geschlagen haben, jeden Sinn ver-
loren. So ersteht in der KPd. immer wieder die
Zweifels- und Schicksalsfrage: Was fall in den
„stillen" Zeilen geschehen, wo zum groben Leid-
wesen für die reinen Revolutionäre nicht geschaffen
wird und der Klassenkamp? so ganz und gar un-
komnlunistische Formen annimuü?
Der Ruf des Dritten Kongresses der Kommuni-
stischen Internationale: „Heranan dieMas -
fen!" war nichts anderes als ein verstecktes Ein-
geständnis der alten kommunistischen Losungen.
Rußlands Bedürfnis nach friedlicher Entwicklung
in Europa zugunsten eines eigenen „kapitalistischen"
Rufbaus verstärkte den Druck auf Aenderung ver
Taktik. Es versteht sich, datz solche Entwicklungen
langsam vor sich gehen. Das Bedürfnis nach Auf-
rechterhaltung der Kontinuität in der Phraseologie,
der Wunsch, nicht als .Umlerner" dazustchen, tut
ein übriges dazu, daß der Entwicklungsprozeß auf
verschlungenen Pfaden, im Zickzack, sich avfpielt.
Auf dem letzten Parteitag der Kommunisten in
Leipzig zeigte sich seit langem zum ersten Male mit
einer für viele überraschenden Deutlichkeit, wie weit
der Entwicklungsprozeß zum realpolitischen Denken
vorgeschritten ist. Das Parteitagsmanbf-est der
Mehrheit anerkennt die Notwendigkeit der Ersül-
lungspolitik. Damit ist schon eine der wichtigsten
Voraussetzungen politischer Erkenntnis der Bedingt-
heit jeder sozialpolitischen Politik in Deutschland
unter den gegebenen internationalen Beziehungen
berührt. An die Stelle der Propagierung der Pro-
letarischen Diktatur trit die Propaganda einer „A r-
beiterregterung". Mag auch jeder Kommu-
nist eine andere Vorstellung von einer Arbeilerre-
gierung haben, keiner von ihnen leugnet, daß diese
neue Form der komnmnistischen Propaganda durch
die politischen Tatsachen bedingt ist. Es wird die
Notwendigkeit betont,-„im Rahmen der Demokra-
tie" politisch mit der Sozialdemokratie zufammen-
zuarbeiten. Auf der rheinischen Be-zirkskonferenz
der KPD. unterstreicht Klara Zetkin jetzt diese
neue Wandlung energisch. Sie nennt die Erfül-
lungspolitik „eine bittere Notwendigkeit", st« betont,
daß die Kommunistische Partei nur für die For-
derungen des gesamten Proletariats -eintreten könne,
sie stellt in den Mittelpunkt der zu lösenden Auf-
gaben: Sachwerterfassung, gerechte Steuerpolitik,
Kampf gegen die Verelendung der Arbeitermassen
usw. und schärfer als Klara Zetkin in ihrer
viel zu wenig beachteten Reichstagsrede über die
Nuhraktion Poincares konnte kein Sozialdemokrat
nationale Note im Abwebrkampf gegen Vie im-
^-'r-attstische Bedrohung der LeLcnSbedingungeu der
ve«tschcu Arbeiterklasse durch den französischen Ein-

marsch betonen. Ihre Rode ist eine leidenschaftliche
Anerkennung der Tatsache, daß die deutsche Arbei-
terbewegung durch die Bedrohung der Einheit der
Republik in ihrer Lebenswurzel getroffen wird, daß
ihr sozialer und kultureller Ausstieg nur möglich ist,
wenn es gelingt, den fremden imperialistischen An-
schlag abzuw ehren.
Mehr noch zeigt die Stellung zur Regierungsbil-
dung in Sachse« dem Wandel in der kommunisti-
schen Politik. Eu wäre verkehrt, diese Dinge nach
parteilichen Stimmungseiudrückcn zu beurteilen.
Gewiß bedeutet die kommunistische Bereitwilligkeit,
im Rahmen der Demokratie zu arbeiten, noch kein
Bekenntnis zur Demokratie. -Sie ist eine Bereitwil-
ligkeit mit Hintergedanken, mit der stillen
Hoffnung, doch noch die Sozialdemokratie bei Gele-
genheit in kommunistische Abenteuer hiueinschliddern
zu lassen. Das zu fürchten hat alber nur der Schwa-
che Veranlassung. Denn die Erziehung der Arlwi-
termassen zu nüchternem realpolitischen Denken, zu
zielbewußtem Handeln hat viel zu große Fort-
schritte gemacht, als das „dämonische Intriganten"
die Resultrne langen Anschauungsunterrichts gefähr-
den könnten. Bei den Kommunisten wird die Er-
stehung um so schnellere Fortschritte machen, je mehr
man ihnen gegenüber fest bleibt, sich nicht um
ein Haar davon abbringen läßt, die politischen
Kräfte der Arbeiterschaft unter demokratischer Durch-
dringung der staatlichen Exekutive zur Geltung zu
bringen. Ihre veränderte Haltung entspringt der
Einsicht in die Unerträglichkeit ihrer isolierten Si-
tuation n. der Einsicht in die Unmöglichkeit politischer
Wirkung anders als aus dein Wege der Annäherung
an die Methode der Sozialdemokratie.

Für die Kommunisten bedeutet diese Entwicklung
die Aussicht auf vermutlich nicht nur eine, sondern
eine Reihe von Krisen, die voraussichtlich kaum ohne
eine Spaltung der Partei vorübergehen dürfte. Die
Opposition mag in ihrer politischen Führung noch
so beschränkt sein, sie hat eine feste, fast uneinnehm-
bare Position in den größten Organisationen; sie
hat eine fanatische und aktive Anhängerschaft, sic hat
so viel Courage, wie die Menschen Acngstlichkeit.
Die Drohung mit dem Hinauswurf wird, soweit
wir übersehen können, ernster zu nehmen sein, wenn
sie aus dem Munde der Ruth Fischer und Mas-
l o w gegen die Zetkin und Brandler ertönt,
als umgekehrt. Datz die Krise etwa schon jetzt gelöst
werden könnte, glauben wir nicht, wenngleich die
Scheidung von den anarchistischen Elementen in der
KPD. zweifellos zu einer veränderten Situation
und zu größerer Einheitlichkeit in der Arbeiterschaft
führen -müßte. Aber solche Prozesse brauchen Zeit.
Je mehr diese Entwicklung innerhalb der kommu-
nistischen Reihen sich unter aufgeregten Bemerkungen
gegen die Sozialdemokratie vollziehen wird, um so
ruhiger kann die Sozialdemokratie diesem Pro-
zeß zuschauen. Sie kann ihn durch eine verständige,
diese Konflikte in die Berechnung einbezichende Hal-
tung wesentlich fördern. Sie kann vor allem sicher
sein, datz in dieser Entwicklung der Sieg der sozia-
listischen Taktik über die jetzt langsam verschwinden-
den Putschistischen und anarchistischen Ueberreste sich,
gleichviel in welchem Tempo, so doch sicher vollzie-
hen wird. Die Sozialdemokratie aber wird um so
stärker werden, wenn nach der endlichen Liqui-
dierung der internationalen Reparationsschwierig-
keiten neue, positive Aufgaben ihrer harren.

Ein Hintertreppenmanöver der
Reaktion im Reichstag.

Heidelberg, 25. April.
Der Reichstag behandelte gestern eine Frage, die
nach den Erlebnissen der leisten Wochen an Hand
der Vorgänge im Miere ndorff-Prozeß spe-
ziell für Heidelberg von besonderem Interesse
ist. Einem Antrag der Parteien der bürgerlichen Ar-
beitsgemeinschaft zufolge sollt« -ein Gesetzentwurf
zur Annahme kommen, durch den die Sprengung
von Versammlungen, Aufzügen oder Kundgebungen
mit ganz besonders hohen Strafen belegt wird. So
sehr wir Gegner jeder gewaltsamen Störung von
Versammlungen sind, und restlose Versammlungs-
freiheit wünschen, so sehr müssen wir es nach unse-
ren Erfahrungen mit den deutschen Gerichten ableh-
nen, solche Bestirnmuugen zu Gesetz werden zu lasten.
Der Fall Mierendorsf zeigt zur Genüge, Wessen wir
uns von deutschen Gerichten zu versehen haben. Ein
Versammlitngsschutz nach dem vorliegenden Wunsche
der Arbeitsgemeinschaft wäre nichts anderes als ein
Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterschaft, gegen die
mau dann bei geeigneter Gelegenheit, auch wenn es
sich um den Schutz der Republik handelte, die Gesetz-
gebungsmasckiite springen ließe, während man im-
mer wieder die Möglichkeit finden würde, rechts-
stehende Gesetzesstörer durch die Maschen springen
zu lassen.
Mit Recht hat deshalb dte sozialdemokratische
Fraktion des Reichstags in der gestrigen Sitzung alle
Mittel in Bewegung gesetzt, um die Annahme des
Gesetzes zu verhindern. Sie wird, wie wir hoffen,
auch weiterhin mit ihrer ganzen Kraft gegen diesen
antirepublikanischen Gesetzesa-ntrag kämpfen. Denn
angesichts der heutigen parteipolitischen Sachlage und
vor allem angesichts der Geistesart unserer Richter
würde die Annahme dieses Vorsammlungsschutzge-
sctzes ein weiterer verhängnisvoller Schllsg gegen
dte Republik bedeuten.
Sitzungsbericht.
Berlin, 24. April.
Der Reichstag behandelte heute in zweiter Lesung
den vom Rechtsausschutz vorgeschlagenen Antrag der
bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft auf Einfügung
neuer Strafbestimmungen gegen Versammlungs-
störungen
im Strafgesetzbuch. Danach soll mit Gefängnis und
eventuell daneben mit Geldstrafe bis zu einer Mil-
lion Mark bestraft werden, wer nicht verbotene Ver-
sammlungon, Aufzüge oder Kundgebungen mit Ge-
iva-lt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen
verhindert oder sprengt oder in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit solchen Versammlungen, Aufzügen
oder Kundgebungen Gewalttätigkeiten begeht. Der
Versuch ist strafbar. Dazu liegt ein Antrag Crispien
vor, wonach Beamte, die di« ihnen nach dem Gesetz
über den Schutz der Republik übertragenen Pflichten
grob oder fahrlässig außer acht lassen, oder ihre
Rechte in solcher Weise mißbrauchen, mit Gefängnis,
in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft werden.

Abg. Vogel (Soz.): Wir lehnen den Gesetzent-
wurf ab. Nicht weil wir die Störung oder Spren-
gung von Versammlung und Gewalttätigresten da
bet Planen, sondern weil nach der Verfassung die
Souveränität vom Volk ausgeht. Freies Versamm-
lungsrecht aber setzt voraus, daß in den Versamm-
lungen auch der Gegner zum Wort kommt. Daß das
verhindert wird, hat vielfach Störungen zur Folge,
für die aber in erster Linie die S.örer nicht verant
wörtlich sind. Mit dem Schutz der Republik hat das
Gesetz nichts zu tun, sondern man will nur damit
geheime Bestrebungen fördern, dte auf den gewalt-
samen Umsturz des S Rates hinzielen. Diese Be-
wegung bedeutet eine Förderung des Faszismus.
Es ist zu befürchten, daß die Gerichtspraxis sich bei
der Anwendung des Gesetzes gegen die Arbeiterpar-
teien richten wird, wie Bayern zeigt, wo die Regie-
rung bisher keine der Gesetzesbestimmungen zum
Schutze der Republik angewandt hat. In Baharn
bestehen die verbotenen Verbände ruhig Wetter und
halten in enger Beziehung zur Reichswehr
Felddienstübungen
ab. Wer will sich Wundern, wenn infolgedessen die
ernsten Republikaner in Erregung geraten und das
in Versammlungen zum Ausdruck kommt? Vergeht
doch keine Versammlung der geheimen Verbände, wo
nicht zum Mord von Inden ausgefordert und dte
Negierung Cuno durch die Jauche gezogen wird.
Hitler, der bayerische Mussolini, und seine Anhänger
begehet» fortwährend den größten Versammlungs-
terror, aber kommunistische Versammlungen und
solche des republikanischen Freihestsbundes werden
verboten. Die Verhandlung gegen dte geheime Or-
ganisation E wird ins ungewisse verschoben. All
dies rechtfertigt das Mißtrauen gegen den vorliegen-
den Gesetzentwurf. Die Nationalsozialisten sind nach
dem Zeugnis des Ministers Schwester die ärgsten
Versammlungsterroristen. Trotzdem trüg- die baye-
rtsche Negierung Bedenken, die Stoßtrupps der Na-
tionalsozialisten aufzulösen. Die Beziehungen der
Reichswehr zu der nationalsozialistischen Bewegung
stehen außer Frage. Das hat der Staatskommissar
Gareis in Nürnberg festgestcllt. Bezeichnend ist, daß
Abgeordnete, die solche Zusammenhänge ausdeckeu,
von den bürgerlichen Parteien des basterischon Land-
tags
einschließlich der Demokraten
noch Preis gegeben werden und ihre Immunität auf-
gehoben wird. Die Verantwortung für die politische
Entwicklung in Bayern fällt der Bayerischen Volks-
partei zu. In Bayern wird mit dem Schicksal des
Reiches gespielt. Wir sehen eine parteiische Hand-
habung des Gesetzes voraus und lehnen es daher ab.
Abg. Henning (Deutschv. Freiheitsp.) stimmt
dem Gesetze zu. Jedes Kind in Deutschland wisse,
daß der Umsturz von links her drohe. Severing
verbiete jedoch jede Organisation, dte etwa geeignet
wäre, sich einem Linkspistsch entgegenzustellen und
verhafte ihre Führer. (Lärm links.) Damit liefere
er den Franzosen den Vorwand, für den Fall von
Unruhen in Deutschland noch Weiler etnzumarschie-
ren. (Stürmische Lärmrufe bei der gesamten Linken.
— Di« Sozialdemokraten ve- äugen einen Ordnungs-
ruf. — Vizepräsident Dietrich erklärt, an Hand des
Stenogrammes die Sachlage zu prüfen.)
Bayerischer Staatsrat v. P-rcger meint, geistige
Bowegungen wie di«- nationalsozialistische oder die

kommunistische könne man nicht durch Polizeimaß-
nahmen unterdrücken. In Bayern bestehe volle Ver-
sammlungsfreiheit. (Gelächter und stürmischer Wi-
derspruch aus der Linken.) Das Gesetz würde den
Versammlungsschutz erleichtern.
Abg. Rcmmcle (Komm.) erklärt, daß noch nie
-ein Gesetz mit schamloserer Heuchelei be-
gründet worden ist, als dieser Entwurf durch den
Vertreter der bayerischen Regierung. (Vizepräsident
Dietrich ruft den Redner zur Ordnung.) Diese Vor-
lage kommt in einer Stunde, wo sich Bayern in offe-
ner Revolution gegen das Reich befindet. (Sehr
richtig! links.)
Abg. Dr. Levi (Soz.): Ueb-er eine tatsächliche
Durchführung der Haftbefehle der Oberreichs-
anwaltschast durch die bayerischen Behörden hat uns
der Justizminister keine Antwort geben können. Bei
der Entscheidung des Untersuchungsrichters Du Metz
liegt ein Druck von außen her vor allem darin, daß
der Untersuchungsrichter seine ursprüngliche Absicht,
selbst die Vernehmung vorzunehmen, aufgab, und sich
für die Vernehmung durch die Münchener Behörde»
entschieden hat. Ich frage den Herrn Reichsjustiz-
minister: Ist es wahr, datz die bayerischen Behörden
den Anweisungen des Reichsgerichts den Gehorsam
aufgekündigt haben? Ist der Herr Rcichsjustizmi-
uister gegen das gesetzvcrstoßende München vorge-
gangen? Wie ist es mit der Durchsührung der- Haft-
befehle gegen Ecka-rdt und W-egcr? Gehorcht die
bayerische Regierung noch den deutschen Gesetzen?
Es wird der Tag kommen, wo entschieden wower»
mutz, ob Bayern noch zum Reiche zählt. In der Ar-
beiterklasse allein ist die Einheit und der Bestand
des Reiches gesichert. Was den vorliegenden Antrag
betrifft, so sehe ich voraus, datz Beifalls- und Mitz-
fallenSbezeugungen, jedes laute Zischen und Stuhl-
rücken als Versuch zur Versainmlungsfpr-engu-ng an-
gesehen wird. Wenn die Bestimmung durchgcsützrt
wird, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: Enstveder
verlausen die Versammlungen wie die Kleinkinder-
schulen, oder sie sind überhaupt uumöglicki. Dieser
Gesetzentwurf, den wir mit aller Erbittern-g bekämp-
fen, ist ein Ausnahmegesetz gegen die Arbei-cr. (Leb-
hafter Beifall bei den Soz.)
Reichsjustizministev Dr. Heinze begrüßt cs,
wenn den praktischen Bedürfnissen der Versamm-
lungsfreiheit jetzt durch besondere Strafandrohungen
Rechnung getragen wird. Das ReichsjiWzmiuiste-
rium ist gewillt, das Gesetz, ioenn es zustande kommt,
nach rechts und links gleich anzuwenden. (Gelächter
links.) Die Verhandlungen zwischen der Reichsre-
giorung und der bayerischen Regierung haben das
Licht der" Oeffentlichkeit nicht zu scheuen. Was die
Untersuchungen des Oberreichsgerich'srals Dr. Metz
betrifft, so hat das Reichsjustizmimst-erium die
Pflicht, vorliegende Bedenken durch die Oberreichs«
anwaltschast dem Untersuchungsrichter mi zuRileu.
Die bayerische Justizverwaltung hat die Versicherung
gegeben, daß Vie a»geordneten Hastbes-ehle in Bayern
vollstrockt werden. (Gelächter links.)
Abg. Leicht (Bayr.VP.) erklärt, man solle das
vorliegende Gesetz begrüßen und unterstützen. Ich
habe Verständnis für die Auffassung der Sozial-
demokraten, wenn st« glauben, das Gesetz werde sich
in erster Linie gegen sie richten, aber es ist schließlich
eine Art Ergänzung zur Schntzgesetzgebung für«»re
Republik. Wir stehen auf dem Boden der Zugehö-
rigkeit zum Reich und der Aufrechterhaltung des
Reiches, so gut wie jeder Sozialdemokrat.
Abg. Dr. Levy (Soz.) weist nochmals darauf
hin, daß ein Gesetz wie das vorliegende angesichts
der Haltung der bayerischen Gerichte versagen mutz.
Damit schließt die Aussprache.
Abg. Dittinann (Soz.) erklärt den bürgerlichen
Parteien, daß die Sozialdemokratie alle Mittel an-
wenden werde, um diesen Schlag gegen die Arbeiter-
schaft abzuwehr-en.
Dor sozialdemokratische Antrag auf Zurückver-
weisung an die Kommission wird in namemlich-r
Abstimmung abgcleünt. Bei einem weiteren ge-
schäftsordnungsmäßigen Antrag ergab sich die Be-
schlußunfähigkeit des Hauses, weil die Sozialdemo-
kraten und Kommunisten den Saal verlasse» halten.
In einer neuen Sitzung teilt Präsident Löb«
mit, daß eine Einigung nicht erzielt wurde. Er
schlägt vor, die Beratung morgen fortzusetzen.
Abg. Müller- Franken (Soz.) erklärt, daß di«
Sozialdemokratie auch morgen eine Verabschiedung
des Gesetzes verhindern werde, und beantragt des-
halb, die Beratung über den Entwurf an letzter
Stelle zu behandeln. — Der Antrag Müller
wird abgel-ehnt. Der Gesetzentwurf über Bersamm-
lungssprengungen bleibt also an erster Stelle der
morgigen Sitzung.

Internationale Lage.
Zur Situation.
Zur Beurteilung der außenpolitischen Situation
nach der Rede Curzons ist es charakteristisch, daß Vic
englische Presse den Schwerpunkt daraus legt, daß
Curzon erklärte, die englische Regierung stehe immer
noch auf dem Boden der Bonar Lawschen Januar-
vorschläge auf der Pariser Konferenz. Da die Ja-
nuarvorschläge die deutsche Reparationsschuld auf
58 Milliarden (Minimum) fcstsctzen wollten, ist an-
zunehm-en, daß die maßgebenden englischen Kreils
auch heute noch glauben, Deutschland kann dtes4
Summe zahlen. Es ist gut, diese Tatsache in Rech«
 
Annotationen