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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 31.1932

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Heft 1 und 2
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Heft 3
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Frisch, Efraim: "Irrational -": einige Bemerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7616#0094

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„Irrational —"

Einige Bemerkungen von EFRAIM FRISCH

„Was ist Natur?" fragt der Romantiker Novalis und antwortet: „Ein
systematischer enzyklopädischer Index oder Plan unseres Geistes." Heute,
nach hundert Jahren und ebenfalls im Umbruch eines Zeitalters antworten
jene, die angeblich in seiner Nachfolge stehen, auf die Frage, was ist
Geist? achselzuckend: Geist gebe es eigentlich gar nicht, seine Wirkung in
die Menschenwelt sei nicht auszumachen. Dafür aber reden sie viel von Blut,
Leben, Seele — das eben sei irrational. Irrational ist das Modeschlagwort
geworden, mit dem die geistige Unsicherheit Probleme erzeugt, wo keine
sind, und besonders als Stange im Nebel verwendbar, just dort, wo es
auf Klarheit ankommt. Sobald der Mensch heute aus den Grenzen seines
Faches oder seiner beruflichen Tätigkeit hinaustritt, sieht er sich einem
wahren Uberangebot von „Weltanschauungen" gegenüber, deren gemein-
sames Merkmal paradoxerweise ihre offenbare Geistfeindlichkeit ist.

Wo der Halbgebildete „relativ" sagt, sagt der Gebildete neuerdings „ir-
rational". Relativ soll wohl heißen: ich kann mich, wenn ich will, vor
jeder Entscheidung drücken — was aber soll irrational bedeuten? Vulgarisiert
bedeutet es insofern das gleiche, als damit eine Art Protest gegen Urteile
aus Einsicht zum Ausdruck kommen soll. Verstandesmäßige Begründung soll
nicht gelten. Wohl, doch wann und wo? Denn an sich ist die Entdeckung,
daß nicht alle Fragen bloß mit dem Verstand zu bewältigen sind, nicht so
bestürzend neu, aber es ist wohl erst unserer Zeit vorbehalten geblieben,
einen geradezu verheerenden Gebrauch von ihr zu machen. Bismarck, zum
Beispiel, begnügte sich noch mit dem Hinweis auf die Imponderabilien
in der Politik. Wir geben es heute nicht mehr so billig und können auch
hier auf das Irrationale nicht verzichten. Gilt es aber, die höheren Instanzen
zu benennen, denen unter diesem Titel die Kompetenz zugesprochen werden
soll, dann stehen wir vor jener Vernebelung, in der alle Grundbegrirre
wie im Urzustand durcheil anderwogen, sich auflösen und die unmög-
lichsten Verbindungen eingehen: die rechte Atmosphäre für allen geistigen
„Ersatz" — bis zu den keine Saison überdauernden immer neu inaugu-
rierten Kunstepochen. Manche sind stolz darauf und nennen das dynamisch;
was man vielleicht am besten mit Betrieb übersetzt.

In diesem brauenden Nebel ist das Irrationale eine Verbindung eingegangen,
bei der nicht nur der Verstand ausgeschaltet ist, sondern der Geist überhaupt sich
verflüchtigt hat. Eine geistige Bewegung mit ausgesprochen geistfeindlicher,
menschenfeindlicher Tendenz, die man am besten mit dem Schelerschcn Wort

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