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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 31.1932

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Heft 1 und 2
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Heft 3
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Neumeyer, Alfred: Die Grenzen der Illusion: "Hoffmans Erzählungen" im Großen Schauspielhaus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7616#0122

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Die Grenzen der Illusion

„Hoffmanns Erzählungen" im Großen Schauspielhaus

von ALFRED NEUMEYER

Die Aufführung von „Hoffmanns Erzählungen" unter Max Reinhardts Regie im „Großen
Schauspielhaus" gehört deswegen zu den bemerkenswerten Ereignissen des Berliner
Theaters, weil an ihr offenkundig wurde, was das Theater — nicht sein soll und nicht
sein kann. Bewundernd wurde es den Zeitungslesern mitgeteilt, daß nicht nur eine echte
Droschke mit einem echten Pferd bei Spielbeginn auf der Bühne stehe, sondern daß auch
mit gleitenden Gondeln an einer beweglichen Palaststraße vorbeigefahren werde, so daß
der „natürliche" Bewegungseindruck einer nächtlichen Gondelfahrt im Beschauer zustande
komme. Wer aber ließe sich nicht gerne verblüffen und verzaubern? Denn wenn schon
Unterhaltung eine ehrliche Sinnerfüllung des Theaters ist, Erhebung und Reinigung eine
noch bessere, so ist Verwandlung der eigenen Existenz, vollkommene Illusion bis zur
Neugeburt das beste, was das Theater zu schenken vermag. Max Reinhardt aber ist der
vollkommenste aller Zauberer gewesen. Die Auflösung der sogenannten realen Welt zur
reinsten Illusion, und das bedeutet soviel wie zur glaubhafiesten Bühnenwirklichkeit, das
war die klassische Bedeutung seiner ersten Shakespeare-Inszenierungen. Da mußte eine
mit allen romantischen Requisiten spielende Oper wie „Hoffmanns Erzählungen" doch
einen besonders dankbaren Stoff bieten. Und es wurden auch keine Kosten gescheut, es
wurden die schönsten Kostüme von Scheurich entworfen, in denen die vortrefflichsten
Künstler sich darstellten, umsurrt von dem Wunderwerk eines sich entfaltenden und zu-
sammenklappenden, auf- und niedersenkenden Bühnenapparates, es wurden Ballette mit
langbeinigen Tänzern und Tänzerinnen eingeschoben und, wie schon erzählt, auch ich
habe die echte Droschke und die echte Gondelfahrt gesehen. An ihnen wurde es klar,
warum alles nur Stückwerk blieb, warum an diesem Abend weder E. Th. A. Holfmanns
noch Offenbachs Geist lebendig waren.

Es kam alles so „echt" auf die Bühne, daß jenes lösende Gefühl des Scheines in uns
nicht einzuziehen vermochte, es war so „echt", daß unsere Phantasie sich nicht angespornt
fühlte, von sich aus etwas hinzuzutun, daß sie jene mitdichtende Passivität nicht aufbrachte,
aus der sich unser „Genuß" wie eine Sauerstoff durstige Flamme ernährt und erhält.
Läßt einem der Regisseur aber nichts zu tun übrig, fordert er nicht durch die Kunst
des Andeutens und Verschweigens, des Pausierens, des Aus- und Einatmens zur Mitarbeit
auf, dann verwandeln sich die Sinne des Zuschauers allmählich in ein Rudel nimmer-
satter Wölfe. Haben sie erst eine leibhaftige Droschke auf der Bühne gesehen, dann
wünscht man das nächste Mal einen Vierspänner. Die ohne Übersetzung auf die Bühne
verpflanzte Realität kann bei geschickter Ausnutzung, das heißt Kontrastierung, spukhaft
wirken; als Attrappe verwendet, wie in diesem Fall, steht sie nur der echten Wirkung
entgegen — und schon aus diesen, wenn nicht aus künstlerischen Gründen sollte Rein-
hardt auf die fürs Ganze typische Droschke verzichten. Gondeln brauchen gar nichr wie
echt dahingleiten, und der natürlichste Wein in den Gläsern von Lutter und Wegenet
ist derjenige, der in den Köpfen der Zuschauer Geschmack und Farbe hervorbringt.
Das Stück wurde in einem Riesenzirkus gegeben, darin mag eine gewisse Rechtfertigung
für Reinhardts Unternehmen liegen. Denn ohne Zweifel gehen viele feinere Wirkungen
bei übersteigerten Dimensionen verloren. Aber es ist nicht einzusehen, warum nicht auch
die Mittel echter Theaterillusion zu steigern wären: unendliche Perspektiven statt richtig
gleitender Gondeln,Träume von Licht statt akrobatischer Tänze, ein komischer Droschken-
kutscher statt eines langweiligen Gaules.

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