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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 71 - Nr. 78 (4. September - 28. September)
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Sonſt hatte ihm der Anblick der reichen blühenden
Natur, die er mit ganzer Seele liebte, einen immer
neuen Genuß geſchenkt. ö
Heute war das nicht der Fall.
Die Trauer, die in ſeiner Bruſt herrſchte, harmo⸗—

nirte nicht mit der in voller Blüthe prangenden Außen

welt. ö
Seine Gedanken waren: Das Auge meines armen
verblichenen Kindes wird nie mehr mit Entzücken auf
das ſanfte Grün des Raſens, auf die farbigen, dufti-
gen Blüthen ſchauen, die milden Düfte, die darüber
hinſäuſeln, werden nicht mehr ihre blaſſen Wangen
fächeln. Ach, und Bertha war ſo glücklich, wenn ſie
im Garten ſpielen durfte, was die ſtrenge Mutter ihr
leider nur ſelten erlaubte.
Der alte Mann ſeufzte einige Male tief auf und
dachte dann weiter: ö
Ich hatte auf dieſes Kind die Hoffnung einer frie-
devollen Zukunft für meine letzten Tage gebaut. Bertha
hätte ſich nie vermählt. Die Natur hatte ihr die Aus-
ſicht auf eine glückliche Ehe ſchon bei der Geburt ver-
ſagt. Emilie, geſegnet mit ungewöhnlichem Reize wird
bald einem Manne in eine andere Heimſtätte folgen.
Meine Söhne tragen den Charakter ihrer Mutter. Wie
dieſe, haben auch ſie mein Herz nie verſtanden. Seit
mir Gott meine liebe Kleine genommen, fühle ich, daß
ich im Alter allein ſtehen werde, ganz allein, ein rei-
cher und ohne Liebe doch ſo armer Mann.
Mehr als eine Thräne rann über ſeine gefurchten
Wangen. Eine unbeſchreibliche Sehnſucht drohte ſeine
Bruſt zu zerſprengen. Es war die Sehnſucht nach dem
Kinde, das er — in der Stunde, wo ihr der Tod die
Augen ſchloß, war es ihm erſt ganz klar geworden —
nicht minder als die holde Emilie geliebt hatte.
„Und wenn es mir neue Schmerzen, neue Thränen
koſtet, murmelte er. „Ich will, ich muß ſie noch ein-
mal ſehen, den letzten Kuß auf ihr bleiches kaltes Ant⸗—
litz hauchen. Dann mag der Deckel des Sarges mir
für immer den traurigen Anblick entziehen.“

(Fortſetzung folgt.)

Mannichfaltiges.

(Valentins⸗Tag.) Der Valentinstag (14. Fe-
bruar) hat in England eine eigenthümliche Bedeutung.
Wo man noch an dem alten Brauch feſthält, ſchreibt
man am Abend vor dieſem Tage an die Dame, die
einem beſonders gefällt, eine poetiſche Epiſtel, bindet
den Brief an einen Apfel oder eine Orange und wirft

ihn der Schönen in's Haus, nachdem man laut an die

Thür gepocht. Die Damen hinwieder haben am Va-

lentinstage die Freiheit, daß ſich jede unter den Her-

ren ihrer Bekanntſchaft einen wählen darf, der ihr den
Hof mache. Er iſt dann der Valentin und ſie die
Valentine. Zum Zeichen, daß er dieſen Dienſt an-

Jauf ein Jahr zur Galanterie gegen ſie.

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nimmt, überreicht er ihr einen Blumenſtrauß oder ein
ähnliches kleines Geſchenk; dadurch verpflichtet er ſich
Dies ſcherz-
hafte Verhältniß wird mit der Zeit oft ein ernſtes.
Allgemein iſt die Sitte natürlich nicht und war es
auch nie. ö

— Der Präſident Abraham Lincoln erhielt einſt
den Beſuch eines vornehmen Engländers, während er
ſich der etwas trivialen Beſchäftigung hingab, ſeine
kalbledernen Stiefel zu wichſen. „Excellenz ſehen mich
perplex,“ bemerkte der Engländer bei dieſem Anblick.
„Eine derartige Beſchäftigung verabſcheut bei uns der
gemeinſte Bürger. Kein Engländer wichſt ſeine eige-
nen Stiefel.“ — „Wem wichſt er ſie denn?“ entgeg-
nete Lincoln einfach. ö ö

(Eine ſonderbare Sekte.) In Spanien gab
es einſt eine Sekte, genannt die Disciplinarier, eine
Abart der Geißelbrüder oder Flagellanten, welche die
Galanterie mit der Religion ſeltſam vermiſchte. Jeden
Charfreitag zogen ſie in phantaſtiſcher Tracht und ein
jeder mit Bändern in der Farbe ſeiner Dame geſchmückt
durch die Straßen. In den Händen, die mit weißen
Handſchuhen bedeckt waren, trugen ſie Peitſchen von
dünnen Riemen, an deren Ende Glasſtückchen befeſtigt
waren, und 'jedesmal, wenn ſie einem hübſchen Mäd⸗-
chen begegneten, geißelten ſie ſich den nackten Oberleib,
bis das Blut auf das Kleid der Dame ſpritzte; für
welche Ehre dieſe ſehr höflich ihren Dank ausſprach.
Kam ein Liebhaber vor dem Fenſter ſeiner Schönen
an, ſo peitſchte er mit verdoppelter Wuth auf ſich los,
während ſie mit ſtolzer Behaglichkeit zuſah und ſeine
Schmerzen mit einem gnädigen Lächeln belohnte.

Jetzt und Einſt.

Im tiefſten Innern iſt die Welt zerriſſen,
Gewalt'ge Kräfte regen ſich und toben;
Das Gute kämpft mit alten Hinderniſſen,
Das Neue wollen Viele noch nicht loben.
Des Rechtes alte Zeichen ſind zerriſſen,
Und doch der Wahrheit Banner nicht erhoben;
Nach Freiheit hier ein ungeſtümes Drängen
Und dort die Luſt, ſie mehr noch einzuengen.

Doch wenn ſich einmal das Geſchick vollendet,
Und was nicht frommt, dem Tode zugefallen;
Dann wird der Menſchheit dunkles Loos gewendet,
Es öffnen ſich die dumpfen Kerkerhallen,
Die ſtolze Willkühr und die Knechtſchaft endet;
Der milde Tag der Liebe leuchtet Allen,
Und fröhlich aus verſunkenen Ruinen

Wird neu und ſchön der Menſchheit Leben grünen.
 
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