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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 31.1932

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Heft 1 und 2
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Das neue Format
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Jedlicka, Gotthard: Zu Manets hunderstem Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.7616#0039

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jede Skizze ist eine abgeschlossene Leistung. Sie ist bei scheinbarer Locke-
rung und in aller nachlässigen Skizzierung in seltenem Sinne fertig. Auch
jene Bilder sind fertig, in denen wir Ubergangswerke sehen. An seinem
flüchtigsten Auftrage läßt sich nicht rütteln, und seine raschesten Striche
sogar scheinen immer Schlußstriche zu sein, wobei man vom ersten und
vom letzten Strich die gleiche Distanz hat. Seine Malerei (wie oft über-
rascht man sich gerade bei diesem Gedanken) ist Scharfschützenkunst.
Der Maler scheint mit dem Pinsel anzulegen und mit präziser Unbeholfen-
heit in die Mitte zu treffen. In seiner Gestaltung ist letzte Vollendung,
in der sich leise Überreife ankündigt. Das hat Baudelaire mit dem be-
rühmten Ausspruch gemeint, den man schon hin und wieder ausgedeutet
hat: „Vous etes le premier dans la decrepitude de votre art!" Seine Malerei
ist von einer göttlichen Banalität. Aber jeder Alltag nimmt darin festliche
Intensität an. Wenn man vor seine Bilder tritt, lebt man in einem un-
endlichen Raum. Das unvergänglich Richtige, nach dem man gerade in
Frankreich immer wieder gesucht hat, ist auf schlagende Weise wieder-
gegeben, so daß es jedesmal einer Entdeckung gleicht. Das Zeitlose, das
in aller großen Malerei lebt, ist seltsam genau an die Zeit gebunden,
scheint sich faltenlos mit ihr zu decken. Das Unauffällige, das dieser
elegante Mensch mehr als jeder andere gesehen hat, ist überall auf strah-
lende Art konzentriert. Er gibt herrlichsten Schein ganz ohne jede Illusion.
Ja, die Auseinandersetzung mit seiner Malerei, die ununterbrochen vor
sich geht, spielt sich in einer so hellen und scheinbar so nahen Schicht
des Bewußtseins ab, daß man sie vorerst gar nicht bemerkt und nachher
kaum zu fassen vermag. Es ist, als müsse man vor ihr hinter das Geheimnis
der Geheimnislosigkeit kommen. Man sieht sie, atmet auf, und wird im
gleichen Augenblick ohne Erschütterung reicher. Seine Malerei hat ihre
größte Kraft, wo sie am leichtesten wirkt, ihre überzeugendste Tiefe, wo
sie am flächigsten erscheint, und ihre innigste Verführung, wo sie sich am
sachlichsten gibt: sie schwingt labil in unerschütterlicher Mitte. Und was
für Gegensätze sind in ihr verbunden! Man denkt zugleich an Quallen
und an Kristall. Sie ist voll von einer abgründigen Helligkeit. Sie ist auf
vornehme Art ungeschickt, auf unbeholfene Weise treffsicher. Sie hat sanfte
Heftigkeit, präzise Flüchtigkeit, scharfe Fadheit, distanzierte Intimität. Sie
ist naiv und skeptisch, schamlos und keusch. „Vierge et abstrait", schreibt
einmal Mallarme.

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