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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1905)
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Gregori, Ferdinand: Der ideale Zuschauer
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0083

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lebendig vorzustellen, wie der Dichter sie haben will; aber sie tnn
so. Sie wollen Mittelpunkt sein, auch wo ein andrer die Szene zu
sühren hat; wie tote Schachfiguren rücken sie die Mitspieler zurecht.
Weil sie aber die Alten, Ehrwürdigen sind, so hält gar mancher
seinen Unmut zurück nnd fügt sich, büße er auch dabei seine schönsten
darstellerischen Einfälle ein. Hat aber einer der Jüngeren die Kraft,
sich durchzusetzen, wobei er ja dem ganzen Stücke nützt, so kommt
es zu Mißhelligkeiten, die der Aufführung in andrer Hinsicht wieder
schaden.

Gesetzt aber, die kühlen Techniker terrorisieren uns nicht, wir
sind unter uns, so beginnt nun die Herrschaft des idealen Zuschauers
in dem leeren Schauspielhause; und der Schauspieler ist gut dran,
dessen unsichtbarer Freund noch eine Erinnerung hat an die glück-
seligen Stunden des heimischen Studiums. Jeder konstruiert seinen
eignen — allen diesen Zuschauern aber ist gemeinsam, daß sie aus
sämtlichen Zimmern eine Wand herausnehmen und jede Landschaft nur
von einer Seite einsehen. Das ist schon sehr mißlich, denn sie wollen
trotzdem alle Menschen und Gegenstände, die auf dem Theater sind,
während des ganzen Verlaufs der Bühnenhaudlung sehen; ob sie
nun in der Loge am weitesten links oder am weitesten rechts sitzen.
Dann auch haben die meisten dieser Zuschauer den Ehrgeiz, Wort
für Wort zu hören. Aber nur die meisten; die Schauspieler sind
nämlich heute nicht selten, die ihren idealen Zuschauer nicht weiter
entfernt setzen als in die dritte Parkettreihe. Ob der dritte Rang,
ob die letzte Galerie etwas versteht, ist ihnen gleichgültig. Man
sieht, hier kommen schon Risse in die Vorstellung; ein Abtönen
der Reden ist illusorisch, wenn so verschiedene ideale Zuschauer Richter
sind. Aehnlich ist es mit den Masken, den Gesten; sie sind grob
oder fein, je nachdem der ideale Zuschauer, der Künstler selbst grob
oder fein ist.

Hat man als Schauspieler ein somnambules Auge, so erscheint
einem während der Proben von der Bühne aus das ganze
Schauspielhaus voll von solchen idealen Schemen. Ein vornehmer
Darsteller setzt den seinigen vielleicht in den ersten Nang, auf den
ja auch die Dekorationen meist eingestellt sind. Andre aber be-
gnügen sich weder mit dem ersten Rang noch mit einem Zu-
schauer, sie füllen alle Ränge, das Parterre und die höchsten
Regionen gleich mit Hunderten an, die alle die glcichen, eigenen
Züge tragen und sich durch breites Lachen und mächtige, holzharte
Hände auszeichnen. Die ihren Zuschauer in die dritte Parkcttreihe,
so sorglich nahe an die Bühne rücken, weil sie dem großen Publi-
kum nicht einmal verständlich sein wollen, das sind die leisen,
allzufeinen Schauspieler, die sich im Leben nie mit der Wirklich-
keit, in der Kunst nie mit der gegebenen Bühne abfinden. Sie
versteifen sich aus die zartesten Ergebnisse ihrer häuslichen Arbcit;
ihnen ist alles im Wege, was sie daheim nicht innerlich geschaut haben.
Sie wissen nicht, daß die Umwertung des Dichtwerkes in ein Bühnen-
werk zwei Phasen durchmachen muß, und daß die zweite wohl nicht
so beglückend ist wie die erste, aber doch gleich notwendig und des-
halb gleich berechtigt. Was man Theaterblut nennt, das zeigt sich

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