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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1905)
DOI Artikel:
Scheffler-Friedenau, Karl: Der Deutsche und seine Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0233

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dige. Das Gesetz und den Adel aller Gesetzmäßigkeit, die Art, wie
man dauernde Grundlagen bereitet, zeigte uns Goethe; die Frei-
heit in der Notwendigkeit und die Verklärung des Willens zum Not-
wendigen wies Schiller; die Genialität und Tiefe der freiwilligen
Beschränkung hat Kant offenbart; und Beethoven deutete mit gött-
lichem Nachdruck auf die ewigen, Allen gemeinsamen Gefühlswerte
in jeder Empfindung des Tages hin. Wie Lehren wirken, dies hängt
stets mehr vom Empfangenden ab als vom Schenkenden. Jn dem
Maße, wie man das eigene Leben fühlt und erfaßt, empfindet man
auch das fremde, größere Leben. Tie Klassiker dürfen nicht für
uns gelebt haben wie Christus für die Scheinchristen, die auf Rechnung
ihres Erlösers sündigen; auch hier heißt es: hils dir selbst, so hilft
dir Gott. Lege in dein Leben aus eigener Kraft das Jdeale und du
wirst auch das der Vorbilder crst ganz besitzen. Wir dürfen nicht,
Kindern gleich, nach fertigen Jdealen zum Spielen greifen, dürfen
frcmdc Nesultate nicht unbesehen hernehmen und kämen sie von
solchen Königcn; wir müssen vielmehr das ganze Leben erfahren
und tun, was jene Großen tun würden, wenn sie an unserer Stelle
wären. Auf diesem Punkte zeigt es sich, wer es verdient, ein Kind
seiner Zeit zu heißen. Das große Beispiel soll uns die Bürde nicht
erleichtern, sondern uns im Gegenteil die Aufgabe immer wieder
erschweren.

Wenn man erfahren hat, wie eine leicht angeflogene Jdealität
Werke produziert, die nach was Rechtem aussehen und nur durch
anderer Gnade bestehen können, wenn man sieht, wie leicht die
höchste Sittlichkeit zur Phrase wird, wenn nicht unablässig die Träg-
heit der menschlichen Natur bekämpft wird und wenn man selbst ge-
nügend Phrasen gemacht hat, um die Psychologie der Phrasen zu
kennen, die heute von allen Seiten niederprasseln, so hat man ein
Necht, zu sprechen, wie es hier geschieht. Es handelt sich um anderes
als um einen patriotischen Rauschzustand. Eine Kulturschädigung ist
es, wenn — entgegen dem Leben und der Lehre unsrer Meister —
Kunst und Lebcn getrennt oder beide gefälscht werden, um eine
Pscudoeinheit zu erzielen. Wir stehen vor Aufgaben, die das ganze
lebendige Bewußtsein fordern, die uns über den Kopf wachsen, wenn
wir traumselig von einer Sonntagnachmittagskunst, von Feierabend-
idealen schwärmen. Allgegenwart des Jdeals brauchen wir und den
ungebrochenen Willen zur Wirklichkeit.

Den schwierigeren Weg, der allein stetige Erneuerung verbürgt:
das Ererbte zu erwerbcn, um es wahrhaft zu besitzen, ist die Mehr-
zahl der Deutschen, die für das geistige Leben Bedeutung haben,
nicht gcgangen. Man wechselt vielmehr das große Geld der geistigen
Führer in Laufmünze um; es sind eine unendliche Menge von Jdeal-
formeln angehäuft worden. Damit wirtschaften die Künstler und
ihr Publikum und meinen, der Umstand, daß sie sich überhaupt
dem „Poetischen" zugänglich zeigten, sei schon Verdienst. Durch alle
Lande verbreitet sich der Jrrtum, die Romantik der Gefühle wäre
an sich schon Kunst, Jdeal und Kultur zugleich. Dieser Selbsttrug
setzt sich fest, wird zu einem Pharisäerglauben und erzeugt die
schlimmste Unduldsamkeit. Denn die Jdealität stärkt das Bewußtsein

2. Novemberheft
 
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